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Das Versteck befand sich im entferntesten und dunkelsten Winkel der Höhle. Es bestand aus einem Gelaß in der Wand, das ein flacher Stein bedeckte, den man vom Felsen nicht unterscheiden konnte. Die Knöpfe, welche die geheimen Federn des Verschlusses in Bewegung setzten, hätte ohne Hilfe des Zwergs niemand gefunden. Als der Deckstein sich auftat, ergriff Ann hastig das dicke pergamentene Buch, dessen Deckel von der Zeit rostfarben geworden waren.

„Habt Dank, herzlichen Dank, liebes Großväterchen!" rief Ann stürmisch. „Wie seid Ihr denn daraufgekommen, wo die Hexe das Buch aufbewahrte?"

„Hab ich euch nicht gesagt, daß unseren Augen nichts verborgen bleibt? Das Komischste an der Sache war, daß die Herrin in der unerschütterlichen Überzeugung lebte, nur sie kenne das Versteck." Der Alte kicherte und mit ihm alle anderen Zwerge. „Ich danke euch, Freunde, aber aufrichtig gesagt, möchte ich nicht häusliche Spione haben, wie ihr es seid", sagte Ann lachend. Darauf lachten die Zwerge noch stärker. Wenige Stunden später traf der Trupp Charlie Blacks aus den Bergen ein. Man kann sich vorstellen, wie groß die Freude der Ankömmlinge war, als sie in den Händen des Mädchens das Buch sahen, um das sie so schwer hatten kämpfen müssen. Hätte man das Buch nicht gefunden, wären alle ihre Mühen umsonst gewesen und das Zauberland hätte daran glauben müssen. Mitten in dieser allgemeinen Freude, als man sich gegenseitig die Hände schüttelte und auf die Schultern klopfe, kroch aus einem unbemerkten Versteck Ruf Bilan hervor. Das Gesicht des Verräters war grau vor Scham und Entsetzen. Er verbeugte sich unterwürfig vor dem Scheuch und dem Riesen von jenseits der Berge und bat sie, ihn für seinen neuen Verrat nicht allzu hart zu bestrafen. „Ich bin unschuldig", stammelte er. „Als ich aus dem langen Schlaf in der Höhle erwachte, begann mich einer der unterirdischen Erzgräber zu erziehen, doch ehe ich etwas lernte... "

„Haben dich die Zwerge geholt, die Arachna nach dir geschickt hatte", fiel ihm der Scheuch ins Wort. „Das alles ist uns bekannt, wir wissen, daß du in die Hände der Hexe fielst, als man aus dir noch etwas Ordentliches machen konnte. Das mildert deine Schuld", fügte der gerechte Herrscher hinzu. Bilan warf sich vor ihm auf die Knie.

„Ihr schenkt mir also das Leben?" jauchzte er. „Oh, ich werde Eure Barmherzigkeit nie vergessen!..."

„Ja, aber in deiner heutigen Art bist du eine Schande für deinen Stamm. Man wird dich wieder einschläfern müssen..." Das Entsetzen im Gesicht Bilans gewahrend, fuhr der Scheuch beruhigend fort: „Allerdings sollst du nicht für lange Zeit eingeschläfert werden, ein Monat oder zwei werden wohl genügen. Danach wird man dich erst richtig umerziehen. Jetzt geh in die Smaragdenstadt und teile Ruschero mit, ich habe gebeten, einen anständigen Menschen aus dir zu machen." „Bei allen Masten und Segeln!" rief Charlie Black, „das ist ein guter Einfall, Bruder Scheuch!"

Ruf Bilan verneigte sich bis zur Erde, stammelte unzählige Dankesworte und machte sich auf den Weg. Als er hinter einem Hügel verschwand, trat aus der Schar der Zwerge Kastaglio hervor und wandte sich ehrerbietig an den Scheuch:

„Dreimalweiser Herrscher der Smaragdeninsel! Wir haben schon lange von Euren hervorragenden Eigenschaften gehört, und wir bitten Euch jetzt, uns Zwerge unter Eure hohe Schirmherrschaft zu nehmen!"

„Was heißt das?" fragte der Scheuch verwundert.

„Das heißt, daß wir Eure Untertanen sein möchten. Wir wissen natürlich, daß wir eine solche Ehre nicht verdient haben, doch sind wir bereit, Euch jeden Tribut zu zahlen, den Ihr uns aufzuerlegen geruhet."

Der Scheuch stützte sich bedächtig auf seinen prächtigen Stock, den er während des ganzen Feldzugs zu bewahren verstanden hatte. Die Bitte der Zwerge schmeichelte ihm sehr.

„Hm... hm...", räusperte er sich. „Eure Bitte kommt mir etwas überraschend, doch meine ich, ihrer Erfüllung stehen keine erschwerenden Umstände im Wege."

Dieser nebelhafte Satz flößte den Zwergen große Achtung ein. Sie bewunderten die Gelehrsamkeit des Scheuchs um so mehr, als ihre frühere Herrin niemals solche gelehrten Ausdrücke verwendet hatte. „Dürfen wir das, Euer Wohlgeboren, so verstehen, daß Ihr unseren Wunsch zu erfüllen bereit seid?" fragte Kastaglio zaghaft. „Ja, gewiß", sagte der Scheuch herablassend. „Und was den Tribut angeht... Ich habe gehört, ihr habt hier eine genaue Chronik eures Landes geführt, stimmt das?" „Ja, Euer Wohlgeboren, wir führen sie bereits seit fünftausend Jahren!" erwiderte Kastaglio stolz.

„Schön, ihr sollt sie weiterführen, und das wird der Tribut sein, den ich euch auferlege!" „Hurra!! Es lebe der Dreimalweise Scheuch!" riefen die Zwerge im Chor. „Natürlich werdet ihr uns die Früchte eurer Arbeit zeigen", schloß der Scheuch milde.

„Gestattet uns, Euch alle Rollen unserer Chronik darzubringen, wir haben sie fünftausend Jahre lang aufbewahrt. Bei uns liegen sie nutzlos da, in der Smaragdenstadt aber werden Geschichtsforscher sie studieren und lange wissenschaftliche Traktate schreiben... "

Die Chroniken wurden eingepackt und auf die kräftigen Rücken der Holzköpfe geladen. Die Zwerge haben ihr Versprechen gehalten: Sie setzen noch heute ihre Chronik fort. Die Bücherei der Smaragdenstadt hat bereits den 579. Band der „Allgemeinen Chronik des Zauberlandes" erhalten, in der ein jeder die Beschreibung der seltsamen und ungewöhnlichen Ereignisse unter dem Titel „Das Geheimnis des verlassenen Schlosses" nachlesen kann. Mit allgemeiner Zustimmung wurde Charlie Black die Ehre zuerkannt, den Bann Arachnas zu brechen und den Gelben Nebel aufzulösen. Hatte doch er, der Riese von jenseits der Berge, den mächtigen eisernen Ritter Tilli-Willi geschaffen, und kein anderer als er hatte den Einfall gehabt, Karfax' Hilfe anzurufen! Es war augenscheinlich, daß man ohne diese beiden Riesen die Hexe nicht hätte besiegen können. Man beschloß, die feierliche Zeremonie des Bannbruchs an der Grenze der ehemaligen Besitzungen Arachnas zu veranstalten, dort, wo der Gelbe Nebel begann. Dort würde sich sofort zeigen, ob die magischen Worte wirkten. Nach einigen Reisestunden hielt der Zug an der Grenze zwischen dem Sonnen und dem Nebelgebiet. Vorne, wo der Gelbe Nebel lag, war alles in Dunst gehüllt, wehten Feuchtigkeit und Kälte herüber. Während hüben Vögel zwitschernd in den Bäumen hüpften, üppige Blumen die Köpfe aus dem Gras streckten und bunte Falter umherflatterten, war drüben die Erde mit Schnee bedeckt, standen die Bäume ohne Laub da, war der Wald wie ausgestorben. Aller Herzen klopften, als Charlie Black das Buch aufschlug und laut die Zauberworte sprach:

„Uburrü-kürüburrü, tandarra-andabarra, faradon-garabadon, schabarra-scharabarra, es weiche für alle Zeiten der Gelbe Nebel aus dem Zauberland!"

Das Wunder geschah! Es war, als hätte eine Riesenhand den Nebelvorhang aufgehoben, und dort, wo eben noch eisige Leere geherrscht hatte, zeigte sich ein schöner blauer Himmel und strahlte die Sonne in ihrer herrlichen Pracht. Das Entzücken unserer Helden war unbeschreiblich. Ann und Tim umarmten sich, Charlie Black warf seine Pfeife hoch in die Luft und fing sie geschickt wieder auf, Doktor Boril schwenkte seine Arzneitasche, und Lan Pirot führte anmutig den „Tanz des Hirsches" auf, für den er beim Wettstreit der Stadttänzer den ersten Preis erhalten hatte. Arto, der plötzlich vergessen hatte, daß er sprechen konnte, bellte ohrenbetäubend, Kaggi-Karr schlug wilde Purzelbäume in der Luft, die Holzköpfe stampften vor Vergnügen mit den Füßen, und der riesige Knabe Tilli-Willi stimmte zum erstenmal in seinem Leben ein Lied an, dessen Worte und Melodie er aus dem Stegreif gedichtet hatte. Das Zauberland war gerettet. Nun würde ewig die heiße Sonne darüber strahlen, würden die Bäume das ganze Jahr saftige Früchte tragen und die Menschen unbeschwert die Felder bestellen und reiche Ernten einbringen. Charlie Black zündete ein Feuer an, in das er das Zauberbuch Arachnas warf.