„Mögen die furchtbaren Beschwörungen, die in diesem verfluchten Buche stehen, für alle Zeiten verschwinden!" sagte der Seemann. „Wer weiß, in welche Hände es geraten und welchen Schaden es noch anrichten könnte, wenn wir es nicht vernichten!"
Das Feuer leckte die Blätter, die in den vielen Jahrtausenden ganz steif geworden waren, dann blähte sich das Buch, brannte lichterloh und ließ
stinkenden Rauch in die Luft aufsteigen. Die alten Zauberblätter verwandelten sich in Asche, die ein Windstoß erfaßte und in die Ferne trug. „Möge alles Böse wie dieses Buch im Zauberland und in der ganzen Welt untergehen!" sprach Charlie Black feierlich.
Unsere Freunde brachen in bester Stimmung auf, den Wagen zu holen, den sie in der Nähe zurückgelassen hatten.
„Kapitän, ich will vorausfliegen und zu eurer Ankunft alles vorbereiten", schlug Tim vor. Doch als der Junge sich auf den Teppich setzte und ihm zu fliegen befahl, rührte sich dieser nicht von der Stelle. Tim wiederholte mehrmals den Befehl, doch es nützte nicht. „Was ist mit dem Ding nur los?" schrie Tim wütend. „Nichts Besonderes", erklärte ihm der Scheuch. „Arachna ist tot, ihr Zauberbuch verbrannt, und damit haben alle ihre Hexereien aufgehört." „Meinetwegen kannst du hier bleiben, nutzloser Lappen!" rief der Junge, den Teppich mit dem Fuß von sich stoßend.
„Du sollst dich schämen!" sagte Ann vorwurfsvoll. „Dieser liebliche kleine Teppich hat uns so viele Dienste erwiesen, und das ist nun dein Dank dafür!" Ann rollte den Teppich zusammen und nahm ihn unterm Arm. „Ich will ihn als Andenken an unsere Abenteuer aufbewahren!" sagte sie. „Gib ihn her, ich will ihn schon tragen", sagte Tim errötend und nahm dem Mädchen die Last ab. Unterdessen nahm Faramant das Inventarverzeichnis aus der Tasche, schlug ein bestimmtes Blatt darin auf, feuchtete die Spitze seines Bleistifts an und strich die Eintragung aus: „Gebrauchter fliegender Teppich, Größe 4 x 3 Ellen..." An den Rand schrieb er noch die Bemerkung: „Abgeschrieben wegen Verlust der Zauberkraft."
Faramant faltete das Verzeichnis wieder zusammen, steckte es in die Tasche und sagte: „Alles will seine Ordnung haben. Wen wird die Kontrolle bei einer Bestandsaufnahme nach dem Teppich fragen? Natürlich mich, den Chef des Versorgungsdienstes."
Die Schar marschierte über verschneites Gelände. Ringsum geschahen wunderbare Dinge: Von der Erde stieg Dunst auf, von den Hügeln plätscherte Wasser herab, an den Zweigen der Bäume schwollen die Knospen, und da und dort, wo der Schnee geschmolzen war, kam grünes Gras zum Vorschein. Unter den wunderwirkenden Strahlen der heißen Sonne zog im Zauberland der Frühling ein!
Scharen von Vögeln - Nachtigallen, Rotkehlchen, Stieglitze und Zeisige -holten die Wanderer ein und zogen über ihre Köpfe dahin. Die unfreiwilligen Gäste Arachnas kehrten zu ihren heimatlichen Nestern zurück, aus denen sie der Gelbe Nebel vertrieben hatte. In den Bäumen hüpften Eichhörnchen und Beutelratten, und etwas weiter weg trottete ein Bär, der furchtsam nach dem schrecklichen Gesicht Tilli-Willis schielte. Der aufmerksame Riese gewahrte die Angst von Meister Petz und erinnerte sich plötzlich, daß auch andere Tiere bei seinem Anblick ängstlich in die Büsche huschten. Tilli-Willi blieb stehen und winkte den Bären heran. Zögernd kam Meister Petz näher. Die Augen des eisernen Ritters flößten ihm Entsetzen ein, und er senkte den Blick zu Boden. „Hör mal, Freund", sagte Tilli-Willi sanft, „du scheinst Angst vor mir zu haben?"
„N-n-n-ein, ich ha-ha-be k-k-eine Angst", blubberte der Bär, „w-w-wo-vor sollte ich auch A-A-Angst haben?"
„Ganz deiner Meinung", sagte der Riese. „Ich habe immerhin einiges für dieses Land getan. Äber warum willst du mir denn nicht in die Augen schauen?"
„B-b-bitte, quält m-mich nicht...", stotterte Meister Petz und rannte wie gehetzt in das nächste Gebüsch. Kopfschüttelnd blickte Tilli-Willi ihm nach. „Das ist ihr Dank...", flüsterte er gekränkt. Der Scheuch bemerkte den Ärger Tilli-Willis und beschloß, ihn zu trösten. „Du sollst dich nicht ärgern, lieber Freund", sagte er sanft, „sondern vielmehr stolz sein, daß deine Augen eine mag-ne-ti-sche Kraft ausstrahlen... "
„Man-ge-schi... Wie hast du gesagt?" Der Scheuch wiederholte das Wort. „Diese Kraft wird nicht jedem gegeben", erklärte er. „Hast du vielleicht einen Menschen gesehen mit solchen Augen wie du?" „Nein", erwiderte der eiserne Riese. „Na also. In deinem Gesicht, besonders in den Augen, liegt eine einmalige In-di-vi-du-a-li-tät, und darin besteht deine Ü-ber-le-genheit über alle Lebewesen und alle unbelebten Dinge!" Bezaubert von diesen langen und klingenden Worten, vergaß der sanftmütige Riese sein Leid und rief freudig aus: „Von jetzt an werde ich der Angst dieser Käuze keine Beachtung mehr schenken!"
„Das ist genau das richtige!" stimmte der Scheuch zu. Je weiter man kam, desto lebendiger wurde die Natur. Kaggi-Karr, die auf der Schulter des eisernen Ritters saß, flatterte plötzlich auf und schrie erregt: „Nein, so halte ich es nicht länger aus! Ich darf die Erfüllung meiner Obliegenheiten nicht länger aufschieben!"
„Was sind denn das für Obliegenheiten?" fragte Tim verdutzt. „Weiß du denn nicht, daß ich Generaldirektor des Post- und Fernmeldewesens des
Zauberlandes bin?" erwiderte die Krähe gereizt. „Für meine Verdienste habe ich sogar einen Orden bekommen, den ich nur deshalb nicht trage, weil ich das Prahlen nicht mag."
Bei diesen Worten warf die Krähe einen ironischen Blick auf die Brust Borils, die zwei Orden schmückten.
„Verzeiht, Exzellenz, ich bin hier fremd und hatte von Eurem hohen Rang keine Ahnung", sagte der Junge verlegen.
Kaggi-Karr, die von dieser Anrede sehr geschmeichelt war, erklärte ihre Absichten: „Ich werde jetzt Boten nach allen Richtungen ausschicken, damit die Menschen und Tiere so schnell wie möglich erfahren, daß der Gelbe Nebel für immer verschwunden ist und sie heimkehren können. Meine Eilboten werden ins Unterirdische Land zu den Käuern und den Erzgräbern gehen. Ich werde alle zurückrufen, die sich vor dem Gelben Nebel in die Besitzungen der guten Feen Willina und Stella gerettet haben. Die Ordnung im Zauberland muß so schnell wie nur möglich wiederhergestellt werden!"
Ann und Tim schauten achtungsvoll auf den aufgeplusterten Vogel, von dem so viel abhing und der alles tat, um den Einwohnern des Zauberlandes recht viel Nutzen zu bringen. Unterdessen war Kaggi-Karr bereits weit weg von diesem Ort. Sie erteilte den Schwalben und Spatzen, die auf ihren Ruf herbeigeeilt waren, Befehle. Jeder weitere Tag brachte neue wunderbare Veränderungen. Schnee und Eis waren längst verschwunden, das Gras wuchs schnell, und die Bäume, die sich mit dichtem Laub bedeckt hatten, trugen schon üppige Blüten, deren Duft die Bienen herbeilockte. Ann, Tim und Charlie Black erkannten mit Freude die schönen Wiesen und Haine des Zauberlandes wieder. Sie waren es gewesen, die diesen Zauber wiedererstehen ließen, und deshalb war ihre Freude doppelt groß. Herden von Antilopen, Bisons und Hirschen überholten unsere Wanderer, Rotfüchse stöberten in den Büschen nach unvorsichtigen Kaninchen und Waldechsen krochen aus tiefen Erdlöchern hervor, in denen sie sich vor dem Frost verborgen hatten. Kaggi-Karr wurde von ihren Untergebenen alle paar Stunden über die Vorgänge im Lande unterrichtet. Die Nachrichten waren gut: Die Marranen hatten das Land der Schwätzer verlassen, waren in ihr Tal zurückgekehrt und bestellten jetzt die Felder. Beim Abschied hatten die Marranen die gastfreundlichen Untertanen Stellas ihrer ewigen Freundschaft versichert und gesagt, nunmehr könne nichts mehr in der Welt auch nur einen Schatten des Unbehagens auf ihre Beziehungen werfen. Die Käuer und Erzgräber hatten ebenfalls die düstere Höhle verlassen und waren in ihre lieblichen Häuser zurückgekehrt, die die heiße Sonne so freigebig wärmte. Ihnen waren natürlich die Tiere gefolgt, die im Unterirdischen Land ein Obdach gefunden hatten. Wankend vor Hunger und blinzelnd von dem ungewohnten Licht, trabten Elche, Büffeln,