Die Eule geriet über diesen unerwarteten Entschluß ihres Herrn in Verzweiflung und bat ihn inständig, das Glück nicht zu verscheuchen, das ihm wieder einmal zulächelte.
„Bereite wenigstens eine Handvoll Pulver!" flehte die Eule. „Man kann doch nicht wissen, was noch alles geschehen kann!" Urfin wies auch diese Bitte zurück. Um sich der Pflanzen schneller zu entledigen, verbrannte er sie, und die Asche vergrub er tief in die Erde. Dann machte er eine Handkarre, lud darauf die Habseligkeit aus dem Keller und zog von dannen. Die wütende Guamoko folgte ihm nicht. Etwa zwei Stunden später hörte Urfin Flügelschläge im Rücken, und als er sich umwandte, sah er die Eule.
„Ich hab's mir überlegt, Herr", sagte Guamoko kleinlaut, „du hast recht! Das Lebenspulver hat uns nichts Gutes gebracht, und es war ein kluger Entschluß, die Hände davon zu lassen."
Guamoko schwindelte natürlich - wie hätte sie sich auch so leicht eines Besseren besinnen können! Sie tat jetzt nur so, weil sie sich in ihrem langen Leben gewöhnt hatte, mit Menschen zu leben, und weil es ihr allein im Walde zu langweilig gewesen wäre. Urfin durchschaute sie, war aber dennoch zufrieden, denn auch er hätte die Einsamkeit auf die Dauer nicht ertragen können. Der Weg zu den Bergen dauerte mehrere Tage. Als sie nicht mehr weit waren, erblickte Urfin eine schöne Wiese, durch die sich ein kristallklarer Fluß schlängelte. Bäume, an denen unzählige Früchte hingen, säumten die Ufer.
„Ein guter Ort für eine Wohnstätte", sagte Urfin, und die Eule stimmte ihm zu. Urfin baute hier eine Hütte und legte einen Garten an. Seine Tage waren jetzt von Arbeit und Sorgen ausgefüllt, und die Erinnerungen an die schwere Vergangenheit verblaßten nach und nach. Ein Jahr später fanden ihn hier die Abgesandten Arachnas. Der Weg hatte die Zwerge nicht wenig Mühe gekostet, denn sie waren klein und ihre Beine kurz, und wie sehr sie sich auch anstrengten, mehr als zwei oder drei Meilen am Tag schafften sie nicht. Den neuen Wohnort Urfins aufzuspüren, war auch nicht so einfach gewesen. Als Kastaglio und seine Begleiter in das Blaue Land kamen, sagten ihnen die Käuer, Urfin habe seine Heimat wieder verlassen. Sie befragten die Tiere, und erst nach einem langen beschwerlichen Weg, der einen ganzen Monat dauerte, erreichten die Zwerge die schöne Wiese, auf der Urfins neue Hütte stand. Dieser staunte nicht wenig, als er zu seinen Füßen die winzigen Kerlchen mit den grauen Bärten sah. Vierzig Jahre lebte er im Zauberland, doch von Zwergen hatte er niemals gehört. Allerdings wußte er, daß die Wunder im Zauberland unerschöpflich sind. Urfin begrüßte höflich die Besucher und fragte nach ihrem Begehr. Kastaglio öffnete den Mund zur Antwort, doch plötzlich verließen ihn die Kräfe, und er sank zu Boden. Genauso erging es seinen Gefährten. Urfin schlug sich vor die Stirn. „Ich Dummkopf! Ihr seid müde und hungrig, und statt euch verschnaufen zu lassen, stelle ich Fragen. Ich bitte euch um Verzeihung, das kommt vom einsamen Leben... "
Nach reichlicher Bewirtung und Erholung sagte Kastaglio, weshalb er gekommen sei. Er erzählte von Arachna und erklärte, wofür sie in unvordenklichen Zeiten vom mächtigen Zauberer Hurrikap eingeschläfert worden war. Er verheimlichte auch nicht, daß die Hexe die Herrschaft über das Zauberland begehre und damit rechne, Urfin Juice, der zweimal die Smaragdenstadt erobert hatte, würde ihr dabei behilflich sein. Vor dem Aufbruch der Abgesandten, fuhr Kastaglio fort, habe Arachna angedeutet, sie werde ihre Helfer großzügig belohnen und sie zu Herrschern und Statthaltern der unterworfenen Länder machen. Urfin schwieg lange. Das Schicksal führte ihn wieder in Versuchung. Er brauchte nur in den Dienst der Hexe zu treten, um wieder Herrscher der Smaragdenstadt oder des Landes der Marranen zu werden und sich vielfach für die Erniedrigungen zu entschädigen, die er hatte durchstehen müssen. Doch da war die Frage: Lohnte es sich? Er würde wieder mit Gewalt die Macht ergreifen, und wieder würde das unterdrückte Volk ihn hassen...
Das Jahr, das er in der Abgeschiedenheit verlebt und in dem er so vieles überdacht hatte, war nicht unnütz vergangen. Urfin erhob den Kopf, blickte Kastaglio in die Augen und sagte entschieden: „Nein! Ich trete nicht in den Dienst eurer Herrin!" Kastaglio war über diese Antwort nicht verwundert und entgegnete nur: „Ehrwürdiger Urfin, vielleicht sagst du es selbst unserer Gebieterin?" „Warum?" fragte Urfin, „könnt denn ihr es ihr nicht ausrichten?" „Es handelt sich darum", erklärte der Zwerg, „daß unsere Gebieterin befohlen hat, dich zu ihr zu bringen. Täten wir es nicht, sagte sie, seien wir schlechte und schlampige Diener. Bei Nichterfüllung des Auftrags wird sie uns für einen ganzen Monat das Recht der Wildjagd in ihren Wäldern und des Fischfangs in ihren Gewässern entziehen. Doch wenn es nicht anders geht, werden wir unsere Gürtel eben enger schnallen und mit unseren Vorräten auskommen müssen." Urfin erwiderte schmunzelnd:
„Könnt ihr denn nicht Fische fangen und Wild jagen, ohne daß eure Herrin es sieht? Ihr seid doch so klein und flink!"
Die Augen Kastaglios und seiner Begleiter weiteten sich vor Schreck. „Wir sollen wildern?" fragte Kastaglio entsetzt. „Ehrwürdiger Urfin, du kennst das Volk der Zwerge nicht! Es besteht schon Tausende von Jahren, doch niemals hat einer von uns sein Wort gebrochen oder jemanden betrogen. Wir sterben lieber vor Hunger..."
Urfin war so gerührt, daß er Kastaglio in seine kräftigen Arme nahm und ihn sanft an seine Brust drückte.
„Liebe kleine Menschlein!" sagte er. „Damit euch kein Leid geschieht, will ich mit euch gehen und selbst Arachna alles sagen. Ich hoffe, sie wird euch nicht dafür bestrafen, weil ich ihr nicht dienen will?"
„Für dein Benehmen sind wir nicht verantwortlich", erwiderte würdevoll Kastaglio.
„Morgen brechen wir auf", sagte Urfin. „Heute müßt ihr erst einmal richtig ausruhen."
Zur Kurzweil seiner Gäste holte Urfin einen Haufen Spielzeug aus der Hütte und breitete es vor den Zwergen aus. Da waren hölzerne Puppen und Clowns mit buntbemalten Gesichtern und leichte zierliche Hirsche und Gazellen, von denen man meinen konnte, sie würden im nächsten Augenblick aufspringen und davonlaufen. Wie unterschieden sich diese lustigen und anmutigen Spielsachen doch von den finsteren und bärbeißigen, die Urfin einst gefertigt hatte, um Kinder mit ihnen zu schrecken!
„Das hab ich in meiner Freizeit gemacht", sagte Urfin schlicht. „Oh, wie reizend!" riefen die Zwerge.
Sie nahmen die Puppen und Tierchen in die Arme, drückten sie zärtlich an die Brust und liebkosten sie. Man sah, daß die Sachen ihnen schrecklich gefielen. Ein Zwerglein sprang auf einen hölzernen Hirsch, ein anderes begann mit einem geschnitzten kleinen Bären zu tanzen. Die Gäste strahlten vor Freude, obwohl die Spielsachen, das muß man schon sagen, für sie viel zu groß waren. Als er die Freude der Zwerge sah, rief Urfin großmütig: ,,Sie gehören euch! Nehmt sie in euer Land und schenkt sie den Kindern, daß sie sich an ihnen ergötzen."
Die Zwerge hüpften vor Freude und überschütteten Urfin mit Dank. Am nächsten Tag brach man auf. Aber schon nach den ersten hundert Schritten merkte Urfin, daß die Zwerge es nicht schaffen würden. Sie waren keine guten Geher, und, bepackt mit den Spielsachen, die fast so groß waren wie ihre Träger, keuchten, schwitzten und taumelten sie, doch keiner wollte sich von den Geschenken trennen. Ein Stück Weg, für das Urfin zwei Minuten brauchte, nahm bei ihnen zwanzig in Anspruch. Als er sie so keuchen und schwitzen sah, brach Urfin in ein schallendes Gelächter aus.