Alexander Dumas
Der Graf von Monte Christo
Erster Band
Marseille. — Die Ankunft
Am 25. Februar 1815 fuhr der Dreimaster Pharao langsam und wie zögernd in den Hafen von Marseille. Eine Trauerwolke schien das Schiff zu umschweben. Gespannt folgte eine schaulustige Menge allenBewegungen des Fahrzeugs undbemerktebei dessen Näherkommen, daß es von einem auffallend jungen und wohlgestalten, dabei aber anscheinend ebenso tatkräftigen wie geschickten Manne gelenkt wurde.
Das Volk von Marseille, dem schon seit Gründung der Stadt einiges Griechenblut durch die Adern rollt, ist von Natur lebhaft und neugierig. In jenen Tagen kam dazu einebesondere Unruhe, die vor allem die Herzen der heißblütigen Provençalen erfüllte. Seit neun Monaten weilte Napoleon nach jähem Sturz von halbgottähnlicher Machthöhe als Verbannter auf dem unfernen Eiseneiland Elba. Die Royalisten triumphierten in Frankreich, und nichts war gefährlicher, alsbonapartistischer Umtriebe oder auch nurbonapartistischer Gesinnung verdächtig zu sein. Nichtsdestoweniger raunte sich die immer wachsende Zahl der Wohlunterrichteten zu, der kleine Korse mit dem großen Zäsarenkopfbereite sich vor, die ihm aufgedrängte Maske des gebändigten Löwen abzuwerfen. DieBeschränktheit der Anhänger des neuen Königs, Ludwigs XVIII., die alle Errungenschaften der Revolution zurückzuschrauben wünschten, die Uneinigkeit der in Wien um das Erbe des Verbannten sich streitenden Mächte, der noch frische Ruhmesglanz desblendenden napoleonischen Namens ließen die Augen vieler Franzosen sich immer aufgeregter und erwartungsvoller nach dem Süden richten.
Unter derbewegten des Pharao harrenden Menge fiel ein Mann auf, der, wie es schien, vor Unruhe die Einfahrt des Schiffes gar nicht erwarten konnte. Er sprang in eine kleineBarke undbefahl, dem Pharao entgegenzurudern, den er auchbald erreichte. Als der junge Leiter des Fahrzeugs dieBarke sich nähern sah, verließ er seinen Posten neben dem Lotsen, dessenBefehle er mit rascher Gebärde und lebhaftemBlick für die Mannschaft wiederholt hatte, nahm den Hut in die Hand und lehnte sich über dieBrüstung des Schiffes.
Es war ein Jüngling von achtzehnbis zwanzig Jahren mit schwarzen Augen und schwarzen Haaren. In seiner ganzen Person drückte sich Ruhe und Entschlossenheit aus, wie sie den Menschen eigentümlich sind, die von Kindheit an mit der Gefahr zu kämpfen haben.
Ah, Sie sind es, Dantes, rief der Mann in derBarke; was ist geschehen, und wasbedeutet das traurige Aussehen des Schiffes?
Ein großes Unglück, Herr Morel, antwortete der junge Mann. Auf der Höhe von Civita Vecchia haben wir denbraven Kapitän Leclère verloren.
Und die Ladung? fragte lebhaft der Reeder.
Ist glücklich geborgen, Herr Morel, und ich glaube, Sie werden in dieser Hinsicht zufrieden sein; aber der arme Kapitän…
Was ist ihm denn geschehen? fragte der Reeder, sichtbar erleichtert, was ist ihm denn geschehen, dembraven Kapitän?
Er ist tot. — In das Meer gefallen?
Nein, er starban einer Hirnentzündung. Dann wandte sich der junge Seemann seinen Leuten zu, rief: Holla, he! Jeder an seinen Posten zum Ankern! und erst als er sah, daß seineBefehle vollführt wurden, kehrte er zu Herrn Morel zurück.
Und wie ist das Unglück gekommen? fragte der Reeder.
Mein Gott, ganz überraschend. Nach einer langen Unterredung mit dem Hafenkommandanten verließ der Kapitän Neapel in sehr aufgeregtem Zustande. Nach 24 Stunden faßte ihn das Fieber, drei Tage nachher war er tot… Er ruht in einer Hängematte, eine Kugel an den Füßen und eine am Kopf, auf der Höhe der Insel Giglio. Wirbringen der Witwe sein Ehrenkreuz und seinen Degen zurück. Warum mußte er, fuhr der junge Mann schwermütig fort, zehn Jahre gegen die Engländer kämpfen, um nun einen solchen Strohtod zu sterben?
Verdammt! Wir sind alle sterblich, und die Alten müssen den Jungen Platz machen, und von dem Augenblicke an, wo ich sicherbin, daß die Ladung…
Siebefindet sich in gutem Zustande, Herr Morel, dafür stehe ich. Das ist eine Ladung, die ich Ihnen nicht für 25000 Franken Nutzen aus der Hand zu geben rate. Dann, als man um den Leuchtturm am Hafeneingang fuhr, rief er: Alle Segel gestrichen!
DerBefehl wurde mit derselben Geschwindigkeit ausgeführt, wie auf einem Kriegsschiffe, und das Schiff rückte nur noch langsam vorwärts.
Wenn Sie heraufkommen wollen, Herr Morel, sagte Dantes, die Unruhe des Reeders wahrnehmend, hier ist Ihr Rechnungsführer, Herr Danglars, der wird Ihnen jede Auskunft geben. Ich meinesteils muß für die Ankerung sorgen. — Der Reeder ließ sich das nicht zweimal sagen und erstiegbehende das Schiff, wo ihm, während Dantes auf seinen Posten zurückkehrte, Danglars entgegenkam.
Danglars war ein Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, unterwürfig gegen seine Obern undbarsch gegen seine Untergebenen, Eigenschaften, die ihn allgemeinbei der Mannschaft ebenso verhaßt machten, wie Edmond Dantesbei ihrbeliebt war. Nun, Herr Morel, sagte Danglars, Sie wissenbereits das Unglück, nicht wahr?
Ja, ja, der arme Leclère! Einbraver, ehrlicher Mann!
Und ein trefflicher Seemann, ergraut zwischen Himmel und Wasser, wie es sich für einen Mann geziemt, dem die Interessen eines so wichtigen Hauses wie Morel und Sohn anvertraut sind.
Aber, versetzte der Reeder, mit den Augen dem geschäftigen Dantes folgend, es scheint mir, manbraucht nicht gerade ein so alter Seemann zu sein, um sein Handwerk zu kennen, und unser Freund Edmond hier treibt das seinige, meine ich, wie ein Mensch, der niemandes Rat nötig hat.
Ja, antwortete Danglars, auf Dantes einenBlick des Hasses werfend, ja, der ist jung und fürchtet nichts. Kaum war der Kapitän tot, so übernahm er das Kommando, ohne jemand um Rat zu fragen, und ließ uns anderthalbTage auf der Insel Elba verlieren, statt unmittelbar nach Marseille zurückzukehren.
Was die Übernahme des Kommandosbetrifft, sagte der Reeder, so war dies seine Pflicht als Sekond; was aber das Verlieren von anderthalbTagen auf der Insel Elbabetrifft, so hatte er unrecht, wenn nicht das Schiff Haverei ausbessern mußte.
Das Schiffbefand sich so wohl, wie ich michbefinde, und diese anderthalbTage dientenbloß dem Vergnügen, ans Land zu steigen.
Dantes, sagte der Reeder, sich nach dem jungen Mann umwendend, kommen Sie hierher!
Ichbitte um Entschuldigung, erwiderte Dantes, ich stehe sogleich zu Diensten; dann rief er der Mannschaft zu: Anker geworfen!
Sogleich fiel der Anker, und die Kette rasselte geräuschvoll hinterdrein. Dantesbliebtrotz der Gegenwart des Lotsen an seinem Posten, bis dieses letzte Manöverbeendigt war. Dann rief er: Hißt die Flagge Halbmast! Kreuzt die Segelstangen! Sie sehen, sagte Danglars, auf mein Wort, er hält sichbereits für den Kapitän.
Gott verdamme mich, warum sollen wir ihn nicht an diesem Posten lassen? entgegnete der Reeder; ich weiß wohl, er ist jung, aber er scheint mir ganzbei der Sache undbereits recht erfahren zu sein.
Eine Zorneswolke trübte Danglars' Miene.
Um Vergebung, Herr Morel, sagte Dantes nähertretend; nun, da das Schiff geankert hat, stehe ich zuBefehl.
Danglars machte einen Schritt rückwärts.
Ich wollte Sie fragen, warum Sie an der Insel Elba angehalten haben, begann der Reeder.
Es geschah in Vollzug eines letztenBefehls des Kapitäns Leclère, der mir sterbend ein Paket für den GroßmarschallBertrand übergab.
Sie haben ihn also gesehen, Edmond?
Wen? — Den Großmarschall. — Ja.
Morel schaute um sich her, zog Dantesbeiseite und fragte lebhaft: Wie geht es dem Kaiser?
Gut, soviel ich mit meinen eigenen Augen sehen konnte.
Haben Sie mit ihm gesprochen? Was sagte er?
Er stellte Fragen an mich über das Schiff, über Zeit und Weg unserer Fahrt nach Marseille und über die Ladung. Ich glaube, wäre ich der Herr des Schiffes gewesen, so hätte er es kaufen wollen. Aber ich sagte ihm, ich sei nur Sekond, und das Schiff gehöre dem Hause Morel und Sohn. Ah, erwiderte er, ich kenne das Haus. Die Morel sind ein altes Reedergeschlecht, und ein Morel stand in demselben Regimente mit mir in Valence in Garnison.