Bravo, Villefort, sagte der Marquis, bravo, gut geantwortet! Ich habe auch der Marquise immer Vergessenheit des Vergangenen gepredigt, ohne es je von ihr erlangen zu können; Sie werden hoffentlich glücklicher sein.
Ja, es ist gut, sagte die Marquise, vergessen wir die Vergangenheit! Aber Villefort soll wenigstens für die Zukunft unbeugsam sein. Vergessen Sie nicht, Villefort, daß wirbei Sr. Majestät uns für Sie verantwortlich gemacht haben, daß Se. Majestät ebenfalls die Gnade hatte, auf unsere Empfehlung zu vergessen, — sie reichte ihm die Hand —, wie ich es auf IhreBitte tue. Nurbedenken Sie, wenn irgend ein Meuterer in Ihre Hände fällt, daß die Augen um so mehr auf Sie gerichtet sind, als man weiß, daß Sie einer Familie angehören, die vielleicht mit diesen Meuterern in Verbindung steht.
Ah, sagte Villefort, mein Amt undbesonders die Zeit, in der wir leben, gebieten mir, streng zu sein, und ich werde es sein. Bereits hatte ich einige politische Anklagen zu erheben, und ich habe in dieserBeziehung meine Probe abgelegt.
Oh, Herr von Villefort, rief eine hübsche, junge Dame, die Tochter des Grafen von Salvieur und eine Freundin des Fräuleins von Saint‑Meran, suchen Sie doch, solange wir in Marseille sind, einen schönen Prozeß zubekommen. Ich habe nie ein Schwurgericht gesehen, und man sagt, es sei etwas Interessantes.
In der Tat, sehr interessant, mein Fräulein, erwiderte der junge Staatsanwalt, denn statt einer scheinbaren Tragödie findet man ein wirkliches Drama, statt gespielter Schmerzen wirkliche Schmerzen. Statt, wenn der Vorhang herabgelassen ist, nach Hause zu gehen, mit seiner Familie zu Nacht zu speisen und sich ruhig niederzulegen, um am anderen Tage wieder anzufangen, kehrt mancher in das Gefängnis zurück, wo er den Henker findet. Sie sehen, daß es für Personen, die Aufregungen suchen, kein Schauspiel gibt, das diesem gleichkommt. Seien Sie unbesorgt, mein Fräulein, wenn sich Gelegenheit zeigt, werde ich es Ihnen verschaffen.
Oh! mein Gott! rief Renée düster, sprechen Sie im Ernste, Herr von Villefort?
In vollem Ernste, mein Fräulein, erwiderte derBeamte lächelnd. Und durch die schönen Prozesse, die das Fräulein wünscht, um seine Neugierde zubefriedigen, und die ich wünsche, um meinen Ehrgeiz zubefriedigen, wird sich die Lage der Dinge einigermaßen zuspitzen. Glauben Sie, daß diese Soldaten Napoleons, gewohnt, blindlings dem Feinde entgegenzugehen, überlegen, wenn sie eine Patrone abbrennen oder mit demBajonette angreifen? Werden sie mehr zaudern, einen Mann zu töten, den sie für ihren persönlichen Feind halten, als einen Russen, einen Österreicher, einen Ungarn, den sie nie zuvor gesehen haben? Überdies muß das so sein, sonst hätte unser Handwerk keine Entschuldigung. Ich selbst, wenn ich in dem Auge des Angeschuldigten den leuchtendenBlitz der Rache zucken sehe, fühle mich ermutigt, begeistert; es ist nicht mehr ein Prozeß, es ist ein Kampf; ich fechte gegen ihn, er macht seine Stöße, ich mache meine Gegenstöße, und der Kampf endigt, wie alle Kämpfe, mit einem Sieg oder mit einer Niederlage. Denken Sie an das Gefühl des Stolzes, das einen von der Schuld des Angeklagten überzeugten Staatsanwalt erfaßt, wenn er den Schuldigen unter dem Gewichte derBeweise, unter denBlitzen derBeredsamkeit sich niederbeugen sieht. Dieser Kopfbeugt sich, er wird fallen.
Renée stieß einen leichten Schrei aus.
Das letzte Mal, sagte einer von den Gästen, haben Sie Ihre Sache auch vortrefflich gemacht, Herr von Villefort. Sie wissen, den Mann, der seinen Vater ermordet hatte, haben Siebuchstäblich getötet, ehe ihn der Henker nurberührte.
Ah! für Vatermörder, das lasse ich mir gefallen, versetzte Renée, es gibt keine Strafe, die für solche Menschen groß genug wäre; aber für die unglücklichen politischen Angeklagten! Sie versprechen mir Nachsicht für die, welche ich Ihnen empfehlen werde, nicht wahr?
Seien Sie unbesorgt, erwiderte Herr von Villefort mit seinem reizenden Lächeln, wir setzen meine Anträge gemeinsam auf.
Meine Liebe, sagte die Marquise, kümmere dich um deine Vögel und um dein Hündchen, und laß deinen zukünftigen Gatten seine Geschäfte selbst abmachen.
Ich glaube, mir wäre es lieber, wenn Sie ein Arzt wären, sagte Renée; der Würgeengel, wenn er auch ein Engel ist, hat mich stets erschreckt.
Gute Renée! murmelte Villefort und schaute dabei das Mädchen mit liebevollen: Blicke an.
Meine Tochter, sagte der Marquis, Herr von Villefort wird der moralische und politische Arzt dieser Provinz werden; glaube mir, es ist ihm eine schöne Rolle übertragen.
In diesem Augenblick trat ein Kammerdiener ein und sagte Herrn von Villefort einige Worte ins Ohr. Dieser stand, sich entschuldigend, vom Tische auf und kam einige Minuten nachher mit heiterem Antlitz und lächelnden Lippen wieder zurück. Renée schaute ihn liebevoll an; mit seinenblauen Augen, mit seiner matten Gesichtsfarbe und seinem schwarzenBackenbarte war er ein wahrhaft zierlicher junger Mann. Die Seele des jungen Mädchens schien an seinen Lippen zu hängen und die Erklärung seines Verschwindens zu erwarten.
Nun, mein Fräulein, sagte Villefort, Sie wünschten soeben einen Arzt als Gatten zubesitzen. Ich habe mit den Schülern Äskulaps die Ähnlichkeit, daß mir nie die Gegenwart gehört, und daß man mich sogar an Ihrer Seite, sogarbeim Verlobungsmahle, stört.
Und aus welcher Veranlassung stört man Sie? fragte das Mädchen mit einer leichten Unruhe.
Ach! wegen eines Kranken, der, wenn das wahr ist, was man mir sagt, in der höchsten Gefahr schwebt. Diesmal ist es ein schwerer Fall, und die Krankheit führt zum Schafott.
Oh, mein Gott! rief Renée erbleichend.
Wirklich? fragte einstimmig die ganze Versammlung.
Es scheint, man hat einbonapartistisches Komplott entdeckt.
Ist es möglich? rief die Marquise.
Hier ist die Denunziation. Und Villefort las denBrief, den Danglars geschrieben, vor.
DieserBrief, sagte Renée, ist ja nur anonym; auch hat man ihn doch an den Ersten Staatsanwalt gerichtet und nicht an Sie.
Ja, aber der Erste Staatsanwalt ist nicht hier; in seiner Abwesenheit gelangte das Schreiben an den Sekretär, der dieBriefe zu öffnenbeauftragt war. Er hat also diesen geöffnet, mich suchen lassen, und da er mich nicht fand, Befehl zur Verhaftung gegeben.
Der Schuldige ist verhaftet? fragte die Marquise.
Das heißt der Angeklagte, verbesserte Renée.
Ja, erwiderte Villefort, und wie ich soeben Fräulein Renée zubemerken die Ehre hatte,… findet man den erwähntenBrief, so ist die Krankheit sehr gefährlich.
Gehen Sie, mein Freund, sagte der Marquis, versäumen Sie Ihre Pflichten nicht, umbei uns zu verweilen, wenn Sie der Dienst des Königs ruft.
Oh! Herr von Villefort, sagte Renée, die Hände faltend, seien Sie nachsichtig, es ist heute unser Verlobungstag.
Villefort ging um den Tisch und sagte, dem Stuhle des jungen Mädchens sich nähernd, auf dessen Lehne er sich stützte: Um Ihnen eine Unruhe zu ersparen, werde ich alles tun, was ich vermag; aber wenn dieBeschuldigung wahr ist, so wird wohl nichts übrigbleiben, als dies schlimmebonapartistische Kraut abzuschneiden.
Renéebebtebei dem Worte abschneiden, denn das Kraut, um das es sich handelte, hatte einen Kopf.
Bah! bah! rief die Marquise, hören Sie nicht auf dieses junge Mädchen, Villefort!
Und die Marquise reichte Villefort die trockene Hand, die er küßte, während er Renée ansah und dieser mit den Augen sagte: Ihre Hand ist es, die ich küsse oder wenigstens in diesem Augenblicke zu küssen wünschte.
Traurige Auspizien, murmelte Renée.