Man sagt, Sie haben sehr auffallende politische Ansichten? fuhr nach einigen Augenblicken Villefort fort, der gern die Frage in die Form einer Anklage kleidete.
Meine politischen Ansichten, mein Herr? Ach! ich schäme michbeinahe, es zu gestehen, aber ich habe das nie gehabt, was man eine Ansicht nennt. Ichbin kaum neunzehn Jahre alt, ich weiß nichts, ichbin nichtbestimmt, irgend eine Rolle zu spielen; das wenige aber, was ich weiß und sein werde, wenn man mir die Stellebewilligt, nach der ich trachte, habe ich Herrn Morel zu verdanken. Alle meine Ansichten, ich sage nicht politische, sondern Privatansichten, beschränken sich auf folgende drei Gefühle: ich liebe meinen Vater, ich ehre Herrn Morel undbete Mercedes an. Das ist alles, was ich über meine Ansichten vor Gericht erklären kann, und Sie sehen, daß es nicht eben sehr interessant ist.
Während Dantes so sprach, schaute Villefort sein zugleich sanftes und offenes Gesicht an und erinnerte sich zugleich der Worte Renées, die, ohne den Gefangenen zu kennen, um Nachsicht für ihn gebeten hatte. Mit dem gewohnten Scharfblick, den er in der Erforschung des Verbrechens und der Verbrecherbereitsbesaß, erkannte er in jedem Worte Dantes' denBeweis seiner Unschuld.
Bei Gott, sagte Villefort zu sich selbst, das ist ein guterBursche, und ich werde hoffentlich nicht viel Mühe haben, michbei Renée willkommen zu machen, indem ich ihrer Empfehlung Folge leiste. Das trägt mir einen guten Händedruck vor aller Welt und insgeheim einen herzlichen Kuß ein.
Bei dieser doppelten Hoffnung erheiterte sich Villeforts Antlitz so, daß Dantes, der allenBewegungen in der Physiognomie seines Richters gefolgt war, lächelnd die große Veränderung in seinem Aussehenbemerkte.
Ist Ihnenbekannt, sagte Villefort, daß Sie Feinde haben?
Feinde, ich? erwiderte Dantes, ich habe das Glück, noch zu wenig zu sein, als daß mir meine Stellung Feinde verschafft haben sollte. Was meinen vielleicht etwas lebhaften Charakterbetrifft, so suche ich ihn stets meinen Untergeordneten gegenüber zu mildern. Ich habe zehnbis zwölf Matrosen unter meinemBefehle; und diese werden Ihnen aufBefragen sagen, daß sie mich lieben und achten, nicht wie einen Vater, dazubin ich noch zu jung, sondern wie einenBruder.
Aber in Ermanglung von Feinden haben Sie vielleicht Neider; Sie sollen mit neunzehn Jahren Kapitän werden, das ist ein hoher Posten in Ihrem Stande; Sie sollen ein hübsches Mädchen heiraten, das Sie liebt, das ist ein seltenes Glückbei allen Ständen der Erde. Diese zwei Vorzüge des Schicksals konnten Ihnen Neider zuziehen.
Ja, Sie haben recht. Sie müssen wohl die Menschenbesser kennen, als ich. Sollten aber diese Neider unter meinen Freunden sein, so gestehe ich, daß ich sie lieber nicht kennen lernen will, um sie nicht Hassen zu müssen.
Sie haben unrecht; man muß so klar als möglich um sich her sehen. In der Tat, Sie scheinen mir ein so ehrenwerter Mann zu sein, daß ich von der gewöhnlichen Regel des Gerichtsverfahrens abgehen und Ihnen zum Lichte verhelfen will, indem ich Ihnen die Anzeige mitteile, die Sie vor mich gebracht hat. Hier ist das Papier. Erkennen Sie die Handschrift?
Villefort zog denBrief aus seiner Tasche und reichte ihn Dantes. Dieser schaute und las. Eine Wolke zog über seine Stirn, und er sagte: Nein, ich kenne diese Handschrift nicht, sie ist verstellt, und dennoch hat sie eine sehr freie Form. Jedenfalls ist es eine geschickte Hand, die dies geschrieben hat; ichbin sehr glücklich, fügte er, Villefort dankbar anschauend, hinzu, daß ich es mit einem Manne, wie Sie sind, zu tun habe, denn in der Tat, mein Neider ist ein wahrer Feind.
Und an demBlitze, der in den Augen des jungen Mannes zuckte, als er diese Worte sprach, konnte Villefort erkennen, wieviel heftige Energie unter dieser äußeren Sanftmut verborgen lag.
Und nun antworten Sie mir offenherzig, sagte der Staatsanwalt, nicht wie ein Angeklagter seinem Richter, sondern wie ein Mensch in einer falschen Stellung einem andern Menschen antwortet, der sich für ihn interessiert. Was ist wahr an dieser anonymen Anklage?
Villefort warf denBrief, den ihm Dantes zurückgegeben hatte, mit einer Gebärde des Widerwillens auf den Schreibtisch.
Alles oder nichts, mein Herr. Hören Sie die reine Wahrheit, bei meiner Seemannsehre, bei meiner Liebe für Mercedes, bei dem Leben meines Vaters. Als wir Neapel verließen, wurde der Kapitän Leclère von einer Hirnentzündungbefallen. Unerwartet rasch verschlimmerte sich seine Krankheit, so daß er nach drei Tagen sein Ende herannahen fühlte und mich zu sichberief. Er ließ mich schwören, alles zu tun, was er von mir verlange, befahl mir, nach der Insel Elba zu steuern, dort dem Großmarschall einen Ring undBrief zu überbringen und schließlich eine Sendung zu erfüllen, mit der mich der Großmarschallbeauftragen würde. Es war die höchste Zeit; zwei Stunden nachher erfaßte ihn das Delirium; am andern Tage war er tot. Ich steuerte also nach der Insel Elba, wo ich am andern Tage anlangte, und stieg allein an das Land. Unverzüglich sandte ich dem Großmarschall den Ring, der mir als Erkennungszeichen dienen sollte, und alle Türen öffneten sich vor mir. Er empfing mich, fragte mich nach dem Tode des unglücklichen Leclère und übergabmir einenBrief, den er mich persönlich nach Paris zubringenbeauftragte. Ich versprach es ihm, denn es galt, den letzten Willen meines Kapitäns zu erfüllen. Ich stieg hier an das Land, ordnete rasch alles, was das Schiffbetraf, und lief dann zu meinerBraut, die ich liebevoller und schöner als je wiederfand. Ich feierte endlich, wie ich Ihnen sagte, mein Verlobungsmahl, sollte mich in einer Stunde verheiraten und gedachte morgen nach Paris abzureisen, als ich auf die Denunziation hin verhaftet wurde.
Ja, ja, murmelte Villefort, dies alles scheint mir der Wahrheit gemäß, und wenn Sie schuldig sind, so sind Sie nur einer Unklugheit schuldig, und diese entschuldigt sich noch durch dieBefehle Ihres Kapitäns. Geben Sie uns denBrief, den man Ihnen auf Elba eingehändigt hat! Verpfänden Sie mir Ihr Ehrenwort, sichbei der ersten Vorladung zu stellen, und kehren Sie zu Ihren Freunden zurück.
Ichbin also frei! rief Dantes im Übermaß der Freude.
Ja, nur geben Sie mir denBrief!
Er muß vor Ihnen liegen, mein Herr, denn man hat ihn mir mit meinen andern Papieren genommen.
Warten Sie, sagte Villefort zu Dantes, der seine Handschuhe und seinen Hut nahm; warten Sie! An wen war er adressiert?
An Herrn Noirtier, Rue Coq‑Héron in Paris.
Wie vomBlitz getroffen sank Villefort auf seinen Stuhl zurück. Aber mit krampfhafter Anstrengung erhober sichbald wieder, um den Stoß Papiere, die man Dantes abgenommen, zu erreichen, und zog nach kurzem Suchen den unseligenBrief hervor, auf den er einenBlick voll unsäglichen Schreckens warf.
Herr Noirtier, Rue Coq‑Héron Nr. 13, murmelte er, immer mehr erbleichend.
Ja, antwortete Dantes erstaunt. Kennen Sie ihn?
Nein, verfetzte Villefort lebhaft; ein treuer Diener des Königs kennt keine Verschwörer.
Es handelt sich also um eine Verschwörung? sagte Dantes, der von einer noch größerenBangigkeit als zuvor erfaßt wurde. Jedenfalls wußte ich, wie ich Ihnen vorhin sagte, durchaus nichts von der Depesche, deren Träger ich war.
Ja, versetzte Villefort mit dumpfem Tone, aber Sie wissen den Namen des Adressaten.
Um ihm selbst denBrief zu überbringen, mußte ich ihn wohl wissen.
Und Sie haben diesenBrief niemand gezeigt? fragte Villefort, während er las und immer mehr erbleichte.
Niemand, mein Herr, auf Ehre!
Niemand weiß, daß Sie der Träger eines von Elba kommenden und an Herrn Noirtier adressiertenBriefes waren?
Niemand, mit Ausnahme dessen, der ihn mir zugestellt hat.
Das ist zuviel, das ist noch zuviel! murmelte Villefort, und seine Stirn verdüsterte sich immer mehr, je näher er dem Ende desBriefes kam. Seinebleichen Lippen, seine zitternden Hände, seine glühenden Augen erregten in Dantes die traurigstenBefürchtungen. Nachdem Villefort vollends ausgelesen hatte, ließ er sein Haupt in seine Hände sinken undbliebeinen Augenblick unbeweglich.