Der Gefangene schaute nach den Öffnungen; sie waren vergittert, und kaum konnte er durch die dichten Stäbe seine Hand strecken. Er hatte nur sein Gefängnis verändert, das aber jetzt forteilte und ihn einem unbekannten Ziele immer näherbrachte. Dantes erkannte jedoch, daß man durch die Rue Tamaris nach dem Kai hinabfuhr.
Bald sah er durch seine Gitter die Lichter des Hafenwachtlokals glänzen. Der Wagen hielt still, der Gefreite stieg abund näherte sich der Wachtstube. Ein Dutzend Soldaten kamen heraus und stellten sich in Reih und Glied; Dantes sahbei dem Schimmer der Lichter ihre Flinten glänzen.
Sollte man meinetwegen eine solche militärische Macht entwickeln? sagte er zu sich selbst.
Den Schlag öffnend, beantwortete der Gefreite diese Frage, ohne ein Wort zu sprechen, denn Dantes sah, daß für ihn nur zwischen den zwei Reihen Soldaten ein Weg vom Wagen nach dem Hafen übrig gelassen war. Die zwei Gendarmen, die auf dem Vordersitze saßen, stiegen zuerst aus, dann ließ man ihn aussteigen, und endlich folgten die, welche an seiner Seite gesessen hatten. Man ging auf eineBarke zu, die ein Zollbeamter an dem Kai mittels einer Kettebefestigt hielt. Die Soldaten sahen Dantes mit einer Miene alberner Neugierde an. In wenigen Augenblickenbefand er sich im Hinterteile des Kahnes, immer zwischen den vier Gendarmen, während sich der Gefreite auf dem Vorderteile hielt. Ein kräftiger Stoß entfernte das Fahrzeug vom Lande, und vier Ruderer arbeiteten mit aller Macht. Auf einen Ruf von derBarke her senkte sich die Kette, die den Hafen schließt, und Dantesbefand sich außerhalbdesselben.
Die erste Regung des Gefangenen war, sobald er sich in freier Luft sah, die der Freude. Freie Luft ist die halbe Freiheit. Er atmete also mit vollerBrust den Wind ein, der auf seinen Flügeln alle die unbekannten Gerüche der Nacht und des Meeres dahertrug. Bald jedoch stieß er einen Seufzer aus. Er kam an der Reserve vorüber, wo er am selben Tagebis zu seiner Verhaftung so glücklich gewesen war, und durch zwei offene Fenster drang der Freudenlärm einesBalles zu ihm.
Dantes faltete die Hände, schlug die Augen zum Himmel auf undbetete, während dieBarke ihren Weg fortsetzte. Sie war an der Tête‑de‑More vorübergefahren und nun imBegriff, um dieBatterie zu rudern; Dantes konnte dieses Manöver nichtbegreifen und sagte daher: Wohin führt ihr mich?
Sie werden es sogleich erfahren. — Aber…
Es ist verboten, Ihnen eine Erklärung zu geben.
Dantes schwieg, aber die seltsamsten Gedanken durchkreuzten nun seinen Geist. Da man in einer solchenBarke keine lange Fahrt machen konnte, da kein Schiff in der Richtung, in der man fuhr, vor Anker lag, so dachte er, man würde ihn an einem entfernten Punkte der Küste ans Ufer setzen und ihmbedeuten, er sei frei. Er war nicht gebunden, was ihm als ein gutes Vorzeichen erschien. Hatte ihm nicht überdies der Staatsanwalt, der ihn so gutbehandelt hatte, gesagt, wenn er den unseligen Namen Noirtier nicht ausspräche, hätte er nichts zubefürchten? Hatte nicht Villefort in seiner Gegenwart den gefährlichenBrief, den einzigenBeweis, der gegen ihn vorlag, vernichtet? Er wartete also, stumm und in Gedanken versunken, und suchte mit dem an die Finsternis gewöhnten Auge des Seemanns trotz der Dunkelheit der Nacht den Raum zu durchdringen.
Man hatte die Insel Ratonneau, auf der ein Leuchtfeuerbrannte, zur Rechten gelassen und war, an der Küste hinfahrend, bis zur Höhe derBucht der Katalonier gelangt. Hier verdoppelten dieBlicke des Gefangenen ihre Kraft, hier wohnte Mercedes, und es kam ihm jeden Augenblick vor, als erschaute er an dem düsteren Ufer die schwankende, unbestimmte Form eines weiblichen Wesens.
Warum sollte Mercedes nicht eine Ahnung sagen, ihr Geliebter komme auf dreihundert Schritte vorüber? Ein einziges Lichtbranntebei den Kataloniern, und indem Dantes den Ausgangspunkt dieses Lichtes genau festzustellen suchte, erkannte er, daß es aus dem Zimmer seinerBraut stammte. Mercedes war also die einzige Person in der ganzen Kolonie, die noch wachte. Wenn er einen kräftigen Schrei ausstieß, konnte der junge Mann von seiner Verlobten gehört werden; aber eine falsche Scham hielt ihn zurück. Was würden seine Wächter sagen, wenn sie ihn wie einen Wahnsinnigen schreien hörten? Erbliebalso stumm, die Augen auf das Licht heftend. Inzwischen setzte dieBarke ihren Weg fort; aber der Gefangene dachte nicht an dieBarke, er dachte an Mercedes.
Eine Wendung des Fahrzeugs ließ das Licht verschwinden. Dantes drehte sich um undbemerkte, daß dieBarke auf das hohe Meer segelte.
Während er, in seine eigenen Gedanken versunken, hinausschaute, hatte man die Ruder durch Segel ersetzt, und dieBarke fuhr, vom Winde getrieben, vorwärts. Obgleich es Dantes widerstrebte, neue Fragen an die Gendarmen zu richten, näherte er sich doch dem einen, nahm ihnbei der Hand und sagte: Kamerad, bei Ihrem Gewissen, bei Ihrer Eigenschaft als Soldatbeschwöre ich Sie, haben Sie Mitleid und antworten Sie mir! Ichbin der Kapitän Dantes, ein guter und rechtschaffener Franzose, wenn auch irgend eines Verrats angeklagt; wohin führen Sie mich? Sprechen Sie, und auf Seemanns Wort, ich unterziehe mich meiner Pflicht und füge mich in mein Schicksal.
Der Gendarm kratzte sich hinter dem Ohr und schaute seinen Kameraden an. Dieser machte eineBewegung, die etwa sagen wollte: Aber meinBefehl?
DerBefehl verbietet Ihnen nicht, mir mitzuteilen, was ich in zehn Minuten oder in einer Stunde erfahren werde. Nur ersparen Sie mirbis dahin Jahrhunderte der Ungewißheit. Ich frage Sie, als obSie mein Freund wären. Glauben Sie mir, ich will mich weder wehren, noch fliehen. Übrigens kann ich das auch gar nicht. Wohin führen Sie mich?
So schauen Sie um sich her!
Dantes stand auf undblickte natürlich zuerst in der Richtung, nach der das Fahrzeug sichbewegte. Da sah er hundert Klafter vor sich den schwarzen Felsen, auf dem sich das düstere Kastell If erhebt. Die seltsame, öde Form und der Gedanke an das Gefängnis daselbst, das ein furchtbarer Schrecken umschwebte und das seit dreihundert Jahren Marseille Stoff zu den unseligsten Überlieferungenbot, wirkten auf Dantes, wie auf den zum Tod Verurteilten der Anblick des Schafotts.
Oh! mein Gott! rief er, das Kastell If! Was sollen wir dort?
Der Gendarm lächelte.
Aber man fährt mich doch nicht dahin, um mich einzukerkern? rief Dantes. Das Kastell If ist ein Staatsgefängnis und nur für gefährliche politische Verbrecherbestimmt. Ich habe kein Verbrechenbegangen. Gibt es dort Untersuchungsrichter, Beamte?
Soviel ich weiß, antwortete der Gendarm, findet man dort nur einen Gouverneur, Kerkermeister, eine Garnison und gute Mauern. Freund, spielen Sie nicht den Erstaunten; denn in der Tat, ich muß sonst glauben, Sie wollen meine Gefälligkeit dadurchbelohnen, daß Sie meiner spotten.
Dantes drückte dem Gendarmen die Hand zum Zerquetschen.
Siebehaupten also, sagte er, man führe mich nach dem Kastell If, um mich einzukerkern?
Das ist sehr wahrscheinlich, erwiderte der Gendarm.
Ohne Untersuchung, ohne Förmlichkeiten?
Die Förmlichkeiten sind erfüllt, die Untersuchung ist fertig.
Also trotz des Versprechens des Herrn von Villefort?
Ich weiß nicht, obHerr von Villefort Ihnen etwas versprochen hat, aber ich weiß, daß wir nach dem Kastell If fahren. Aber was machen Sie denn? Holla, Kameraden, herbei!
Mit einerBewegung so schnell wie derBlitz, der jedoch das geübte Auge des Gendarmen zuvorgekommen war, hatte sich Dantes in das Meer stürzen wollen. Aber vier kräftige Fäuste hielten ihn in dem Augenblicke zurück, wo seine Füße denBoden des Schiffes verließen. Brüllend vor Wut fiel er in dieBarke nieder.
Schön, rief der Gendarm, indem er ihm das Knie auf dieBrust setzte, schön, so halten Sie Ihr Seemannswort! Man traue doch den freundlichen Leuten! Machen Sie nur noch die geringsteBewegung, mein lieber Freund, so jage ich Ihnen eine Kugel durch den Kopf. Ichbin meinem erstenBefehle untreu gewesen, ich werde den zweiten wortgetreubefolgen.