Siebzehn Monate! Oh! Herr, Sie wissen nicht, was siebzehn Monate Gefängnis sind; siebzehn Jahre, siebzehn Jahrhunderte, besonders für einen Menschen, der, wie ich, seinem Glücke so nahe stand; für einen Menschen, der, wie ich, ein geliebtes Wesen heiraten sollte; für einen Menschen, der eine ehrenvolle Laufbahn vor sich offen sah, und dem jetzt alles entrissen ist, der mitten aus dem schönsten Tage in die tiefste Nacht versinkt; der seine Zukunft zerstört sieht; der nicht weiß, obdie, welche er liebte, ihn noch liebt; der nicht weiß, obsein alter Vater gestorben ist oder lebt! Siebzehn Monate Gefängnis für einen Menschen, der an die Luft des Meeres, an die Unabhängigkeit des Seemanns, an den freien Raum, an die Unermeßlichkeit, an die Unendlichkeit gewöhnt ist, Herr! Siebzehn Monate Gefängnis, das ist mehr, als alle Verbrechen verdienen, welche die menschliche Sprache mit den gefährlichsten Namenbezeichnet! Haben Sie daher Mitleid mit mir, und verlangen Sie für mich nicht Nachsicht, sondern Strenge, nicht Gnade, sondern ein Gericht; Richter, Herr, ich verlange nur Richter; man kann einem Angeklagten die Richter nicht verweigern.
Es ist gut, sagte der Inspektor, wir wollen sehen. In der Tat, der arme Teufel dauert mich; wenn wir hinaufkommen, werde ich mir die Gefangenenliste zeigen lassen.
Ganz gewiß! antwortete der Gouverneur; aber Sie werden schwerbelastende Eintragungen finden.
Ich weiß, Herr, fuhr Dantes fort, daß Sie mich nicht durch eigene Entscheidung freilassen können; doch Sie vermögen meineBitte derBehörde zu übergeben, Sie können eine Untersuchung veranlassen, mich vor ein Gericht stellen; ein Gericht, das ist alles, was ich fordere. Ich will wissen, welches Verbrechen ichbegangen habe, und zu welcher Strafe ich verurteiltbin. Denn sehen Sie, die Ungewißheit ist die schlimmste aller Strafen.
Leuchtet mir! sagte der Inspektor.
Herr, rief Dantes, ich entnehme dem Tone Ihrer Stimme, daß Siebewegt sind. Oh, Herr, sagen Sie mir, daß ich hoffen darf.
Ich kann Ihnen das nicht sagen, antwortete der Inspektor, ich verspreche Ihnen nur, daß ich die Siebetreffenden Akten untersuchen werde.
Oh, dannbin ich frei, dannbin ich gerettet!
Wer hat Sie verhaften lassen? fragte der Inspektor.
Herr von Villefort, antwortete Dantes, sprechen Sie mit ihm, fragen Sie ihn!
Herr von Villefort ist seit einem Jahr nicht mehr in Marseille, sondern in Toulouse.
Ah! dann wundere ich mich nicht mehr, murmelte Dantes; mein einzigerBeschützer ist entfernt.
Hatte Herr von Villefort irgend einen Grund des Hasses gegen Sie? fragte der Inspektor.
Keinen, Herr, erbenahm sich sogar sehr wohlwollend gegen mich.
Ich kann mich also auf die Erklärungen verlassen, die er über Sie gemacht hat oder mir geben wird?
Vollkommen, Herr.
Es ist gut. Warten Sie!
Dantes fiel auf die Knie und murmelte ein Gebet, worin er Gott diesen Mann empfahl, der in sein Gefängnis herabgestiegen war, wie der Heiland, um die Seelen aus der Hölle zu erretten. Die Tür schloß sich wieder; aber die Hoffnung, die mit dem Inspektor herabgekommen war, bliebebenfalls im Kerker eingeschlossen.
Beeilen wir uns, dass wir fertig werden, sagte der Inspektor: wer kommt jetzt daran?
Oh, ein drolliger Narr, antwortete der Gouverneur, er hält sich nämlich für denBesitzer eines ungeheuren Schatzes. Im ersten Jahre seiner Gefangenschaft ließ er der Regierung eine Million anbieten, wenn sie ihn in Freiheit setzen wollte, im zweiten Jahre zwei Millionen, im dritten Jahre drei und so fort. Jetzt ist er im fünften Jahre seiner Gefangenschaft; er wird Siebitten, insgeheim mit Ihnen sprechen zu dürfen, und Ihnen fünf Millionen anbieten.
Oh, das ist sonderbar, sagte der Inspektor, und wie heißt dieser Millionär? — Abbé Faria.
Der Schließer öffnete eine Tür, und der Inspektor warf einen neugierigenBlick in den Kerker des närrischen Abbés. Mitten im Zimmer, in einem mit einem Stück Mauerkalk auf der Erde gezogenen Kreise lag ein fast nackter Mensch, so sehr waren seine Kleider in Lumpen zerfallen. Er zeichnete in den Kreis sehr eifrig eine geometrische Linie und schien ebensosehr mit der Lösung seines Problemsbeschäftigt, wie es Archimedes war, als er von einem Soldaten des Marcellus getötet wurde. Er rührte sich nichtbei dem Geräusche, das das Öffnen des Kerkers veranlaßte, und schien erst zu erwachen, als das Licht der Fackeln mit einem ungewohnten Glanze den feuchtenBoden übergoß, auf dem er arbeitete. Dann wandte er sich um und sah mit Erstaunen die zahlreiche Gesellschaft, die in seinen Kerker herabgestiegen war.
Sogleich stand er lebhaft auf, nahm eine Decke, die am Fuße seines elendenBettes lag, und wickelte sich darein, um in den Augen der Fremden in einem schicklicheren Zustande zu erscheinen.
Was sind Ihre Wünsche? sagte der Inspektor, ichbin Vertreter der Regierung und habe den Auftrag, dieBeschwerden undBitten der Gefangenen entgegenzunehmen.
Oh, dann hoffe ich, wir werden uns verständigen, rief der Abbé.
Sehen Sie! sagte leise der Gouverneur. Fängt es nicht an, wie ich gesagt habe?
Mein Herr, fuhr der Gefangene fort, ichbin der Abbé Faria, geboren zu Rom und war zwanzig Jahre Sekretär des Kardinals Rospigliosi; ich wurde, ohne zu wissen warum, Anfang 1811 verhaftet. Ichbin sehr glücklich, Sie zu sehen, obgleich Sie mich in einer sehr wichtigenBerechnung gestört haben, in einerBerechnung, die, wenn sie gelingt, vielleicht Newtons Lehre von der Schwerkraft über den Haufen wirft. Können Sie mir die Gunst einer geheimen Unterredungbewilligen?
Das ist unmöglich.
Wenn es sich jedoch darum handelte, versetzte der Abbé, der Regierung eine ungeheure Summe zuzuwenden, sagen wir fünf Millionen?
Wahrhaftig, sagte der Inspektor zum Gouverneur, Sie haben alles, sogarbis auf die Summe, vorhergesagt.
Mein Lieber, sagte der Gouverneur, leider wissen wir zum voraus und auswendig, was Sie uns sagen wollen; es handelt sich um Ihre Schätze, nicht wahr?
Faria schaute den Spötter mit Augen an, in denen ein vorurteilsloserBeobachter denBlitz der Vernunft und der Wahrheit hätte leuchten sehen; dann sagte er: Allerdings, wovon soll ich sprechen, wenn nicht davon?
Herr Inspektor, fuhr der Gouverneur fort, ich kann Ihnen diese Geschichte ebensogut erzählen, wie der Herr Abbé selbst; denn seit vier oder fünf Jahren muß ich immer und ewig dasselbe hören.
Dasbeweist, sagte der Abbé, daß Sie wie die Menschen sind, von denen die Schrift spricht, welche Augen haben und nicht sehen, welche Ohren haben und nicht hören.
Mein Lieber, die Regierung ist reich undbedarf, Gott sei Dank, Ihres Schatzes nicht. Behalten Sie ihn also für den Tag, wo Sie dieses Gefängnis verlassen werden.
Das Auge des Abbés erweiterte sich; er ergriff die Hand des Inspektors und sagte: Aber wenn ich das Gefängnis nicht verlasse, wenn ich gegen jede Gerechtigkeit in diesem Kerker zurückgehalten werde, wenn ich hier sterbe, ohne mein Geheimnis irgend jemand vermacht zu haben, so ist also der Schatz verloren? Ist es nichtbesser, wenn die Regierung daraus Nutzen zieht und ich ebenfalls? Ich werdebis zu sechs Millionen gehen, mein Herr, ja, ich werde sechs Millionen abtreten und mich mit dem Restebegnügen, wenn man mir die Freiheit schenken will.
Auf mein Wort, sagte der Inspektor halblaut, wüßte man nicht, daß dieser Mensch ein Narr ist, so müßte man glauben, er rede die Wahrheit, in so überzeugendem Tone spricht er.
Ichbin kein Narr, Herr, und sage die Wahrheit, versetzte Faria, der mit der den Gefangenen eigenen Feinheit des Gehörs kein Wort von derBemerkung des Inspektors verloren hatte. Der Schatz, von dem ich spreche, ist wirklich vorhanden, und ich erbiete mich, einen Vertrag mit Ihnen zu unterschreiben, kraft dessen Sie mich an den von mir angegebenen Ort führen. Man soll die Erde unter unsern Augen ausgraben, und wenn ich lüge, wenn man nichts findet, sobin ich ein Narr, wie Sie sagen, und Siebringen mich in diesen Kerker zurück, wo ich ewigbleiben und sterben werde, ohne von irgend jemand mehr etwas zu verlangen.