Hören Sie, mein Freund, erwiderte der Graf, so kann ich Sie nennen, denn ohne es zu vermuten, sind Sie mein Freund seit elf Jahren, die Entdeckung dieses Geheimnisses ist durch ein großes Ereignis herbeigeführt worden, das Sie nicht kennen sollen. Gott ist mein Zeuge, ich wollte es mein ganzes Leben hindurch im Grunde meiner Seelebegraben halten; Ihr Schwager Maximilian hat es mir durch seine Heftigkeit entrissen, die er, ichbin fest überzeugt, bereut.
Dann schaute er Maximilian an, der sich, obgleich auf den Knien verharrend, gegen einen Lehnstuhl gewendet hatte, und fügte ganz leise, Emanuel auf einebezeichnende Weise die Hände drückend, hinzu: Wachen Sie über ihn.
Warum? fragte der junge Mann erstaunt.
Ich kann es Ihnen nicht sagen; doch wachen Sie über ihn.
Jetzt kam Julie wieder herauf; sie hielt die seideneBörse in der Hand, und zwei glänzende, freudige Tränen rollten wie zwei Tropfen Morgentau über ihre Wangen. Das ist die Reliquie, sagte sie; glauben Sie nicht, daß sie mir minder teuer ist, seitdem wir den Retter kennen.
Mein Kind, antwortete Monte Christo errötend, erlauben Sie mir, dieseBörse zurückzunehmen; nun da Sie die Züge meines Gesichtes kennen, will ich in Ihrer Erinnerung nur durch die Zuneigung leben, die Sie mir auf meineBitte gewähren werden.
Oh! nein, nein, ich flehe Sie an, sagte Julie, dieBörse an ihr Herz drückend, denn eines Tages könnten Sie uns verlassen, ja Sie werden uns leider verlassen; nicht wahr?
Sie haben richtig erraten, erwiderte Monte Christo lächelnd; in acht Tagenbin ich von diesem Lande entfernt, wo so viele Leute, die des Himmels Rache verdient hätten, glücklich lebten, während mein Vater vor Hunger und Schmerz starb.
Als er seine nahe Abreise ankündigte, heftete Monte Christo seine Augen auf Morel, und erbemerkte, daß diese Worte ihn keinen Augenblick seinem Tiefsinn zu entziehen vermochten. Er sah ein, daß er einen letzten Kampf mit dem Schmerze seines Freundesbestehen mußte; er nahm daher Julies und Emanuels Hände in die seinigen und sprach mit der sanften Würde eines Vaters: Meine lieben Freunde, ichbitte Euch, laßt mich mit Maximilian allein.
Der Grafblieballein mit Morel, der unbeweglich wie eineBildsäule verharrte.
Laß hören, sagte der Graf, Maximilians Schulter mit seinem glühenden Fingerberührend, wirst du endlich wieder ein Mensch, Maximilian?
Ja, denn ich fange an zu leiden.
Maximilian! Maximilian! sagte der Graf düster, die Gedanken, in welche du dich versenkst, sind eines Christen unwürdig.
Oh! Beruhigen Sie sich, Freund, sagte Morel, das Haupt erhebend und dem Grafen ein Lächeln voll unaussprechlicher Traurigkeit zeigend, ich werde den Tod nicht mehr suchen.
Also keine Waffen, keine Verzweiflung mehr?
Nein, denn ich habe etwasBesseres, um mich von meinem Schmerze zu heilen, als den Lauf einer Pistole oder die Spitze eines Messers.
Armer Narr!.. Was hast du denn?
Ich habe meinen Schmerz, der mich töten wird.
Freund, sagte Monte Christo mit derselben Schwermut, wie Maximilian, höre mich! Eines Tages wollte ich im Augenblick einer Verzweiflung, die der deinigen gleichkam, mich töten wie du, und in eben solcher Verzweiflung wollte sich eines Tages auch dein Vater töten. Wenn man deinem Vater in dem Augenblick, wo er den Pistolenlauf gegen seine Stirn richtete, wenn man mir in dem Augenblick, wo ich von meinemBette dasBrot des Gefangenen wegschob, das ich seit drei Tagen nichtberührt hatte, gesagt hätte: Lebt, es kommt ein Tag, wo ihr glücklich sein und das Leben segnen werdet, wir würden diese Stimme mit der Angst des Zweifels oder mit demBangen des Unglaubens aufgenommen haben, und wie oft hat doch dein Vater, dich umarmend, das Leben gesegnet, wie oft habe ich selbst…
Ah! rief Morel, den Grafen unterbrechend, Sie hatten nichts verloren, als Ihre Freiheit; mein Vater hatte nichts verloren, als sein Vermögen, und ich, ich habe Valentine verloren.
Schau mich an, Morel, sagte Monte Christo, ich habe weder Tränen in den Augen, noch Fieber in den Adern; ich sehe dich jedoch leiden, Maximilian, dich, den ich liebe, wie ich meinen Sohn lieben würde. Nun, sagt dir das nicht, Morel, daß der Schmerz ist wie das Leben, und daß es stets etwas Unbekanntes jenseits gibt? Wenn ich dich zu lebenbitte, wenn ich dir zu lebenbefehle, so geschieht es in der Überzeugung, du werdest mir eines Tages dafür danken, daß ich dir das Leben erhalten habe.
Mein Gott! rief der junge Mann, mein Gott! was sagen Sie mir da, Graf? Nehmen Sie sich in acht! Sie haben vielleicht nie geliebt?
Kind! rief der Graf.
Mit der Liebe, die ich meine, versetzte Morel. Sehen Sie, seitdem ich ein Menschbin, bin ich Soldat, ich habe das neunundzwanzigste Jahr erreicht, ohne zu lieben, denn keines von den Gefühlen, die sichbis dahin in mir regten, verdiente den Namen Liebe. Mit neunundzwanzig Jahren sah ich Valentine; ich liebe sie folglich seitbeinahe zwei Jahren; seit zwei Jahren konnte ich alle Tugenden des Mädchens und der Frau mit meinen Augen in ihrem Herzen wie in einem offenenBuche lesen. Graf, in Valentine lag für mich ein unendliches, unermeßliches, unbekanntes Glück, ein Glück, zu groß, zu vollständig, zu göttlich für diese Welt, da es mir auf Erden nicht vergönnt ist. Graf, damit sage ich Ihnen, daß es ohne Valentine für mich auf der Welt nur Trostlosigkeit und Verzweiflung gibt.
Ich hieß Sie hoffen, Morel, wiederholte der Graf.
Nehmen Sie sich in acht, sage ich Ihnen noch einmal, Sie suchen mich zu überzeugen, und wenn Sie mich überzeugen, machen Sie, daß ich den Verstand verliere, denn Sie lassen mich glauben, ich könne Valentine wiedersehen.
Der Graf lächelte.
Mein Freund, mein Vater! rief Morel in höchsterBegeisterung! Nehmen Sie sich in acht! sage ich Ihnen zum dritten Male, denn die Herrschaft, die Sie über mich gewinnen, erschreckt mich; wägen Sie den Sinn Ihrer Worte ab, denn meine Augenbeleben sich, mein Herz entzündet sich wieder, es wird neugeboren; nehmen Sie sich in acht, denn Sie lassen mich an übernatürliche Dinge glauben. Ich würde gehorchen, wenn Sie mich den Stein von dem Grabe, das die Tochter Jairibedeckt, aufheben hießen; ich würde auf den Wellen gehen, wenn Sie mich mit einem Zeichen der Hand auf den Wellen gehen hießen.
Hoffe, mein Freund, wiederholte der Graf.
Ah! rief Morel, von der ganzen Höhe seinerBegeisterung in den Abgrund seiner Traurigkeit zurückfallend; ah! Sie spotten meiner. Sie machen es wie die guten Mütter, oder vielmehr wie die selbstsüchtigen Mütter, die mit honigsüßen Worten den Schmerz ihres Kindes stillen, dessen Geschrei sie plagt. Nein, mein Freund, nein, ich hatte unrecht, Ihnen zu sagen, Sic mögen sich in acht nehmen; nein, befürchten Sie nichts, ich werde meinen Schmerz so sorgfältig in der Tiefe meinerBrustbewahren, ich werde ihn so geheim halten, daß Sie nicht einmal mehr Mitleid zu habenbrauchen. Gottbefohlen, mein Freund, Gottbefohlen.
Im Gegenteil, sagte der Graf, von dieser Stunde an, Maximilian, wirst dubei mir und mit mir leben, du wirst mich nicht mehr verlassen, und in acht Tagen haben wir Frankreich hinter uns.
Und Sie heißen mich immer noch hoffen?
Ich heiße dich hoffen, weil ich ein Mittel kenne, das dich heilen wird.
Graf, Sie machen mich, wenn es möglich ist, noch trauriger. Sie glauben, der Schlag, der mich trifft, hat nur einen alltäglichen Schmerzbewirkt, und wollen mich durch ein alltägliches Mittel, durch Reisen, heilen.
Was soll ich dir sagen? versetzte der Graf. Habe Zutrauen zu meinen Versprechungen, mach' den Versuch!
Graf, Sie verlängern nur meinen Todeskampf.
Schwaches Herz, du hast also nicht die Kraft, deinem Freunde einige Tage zur Probe zu geben! Weißt du, was der Graf von Monte Christo zu vollführen fähig ist? Weißt du, daß er genug Glauben an Gott hat, um Wunder von dem zu verlangen, der gesagt hat, mit dem Glauben könne der MenschBerge versetzen? Nun, dieses Wunder, auf das ich hoffe, erwarte es, oder…