Der Gouverneurbrach in ein Gelächter aus und sagte: Die Sache ist nicht übel ersonnen. Wenn alle Gefangenen sich den Spaß machen wollten, ihre Wärter hundert Meilen spazieren zu führen, so wäre das ein vortreffliches Mittel für sie, bei Gelegenheit sich aus dem Staube zu machen, und an Gelegenheit würde es dabei nicht fehlen.
Es ist einbekanntes Mittel, sagte der Inspektor, und der Herr hat nicht einmal das Verdienst der Erfindung.
Mein Herr, antwortete Faria, schwören Sie mirbei Christus, mir zur Freiheit zu verhelfen, wenn ich Ihnen die Wahrheit gesagt habe, und ich nenne Ihnen den Ort, wo mein Schatz vergraben liegt. Sie wagen dabei nichts, und Sie sehen, daß ich mir nicht dadurch eine Gelegenheit verschaffen will, mich zu flüchten, da ich im Gefängnisbleibe, während die Probe gemacht wird.
Sie sind mit Ihrer Kost zufrieden? fragte der Inspektor, um zu Ende zu kommen.
Fort mit Ihnen! rief der Abbé. Seien Sie verflucht wie die andern Wahnsinnigen, die mir nicht glauben wollten! Sie wollen nichts von meinem Golde; ich werde esbehalten. Sie verweigern mir die Freiheit, Gott wird sie mir schicken. Fort, ich habe nichts mehr zu sagen.
Damit warf der Abbé seine Decke zurück, griff wieder nach dem Kalkstück, setzte sich in seinen Kreis und fuhr fort, seine Linien und Zahlen zu zeichnen.
Sie gingen weg, und der Gefangenenwärter schloß die Tür hinter ihnen.
Er muß in der Tat Schätzebesessen haben, sagte der Inspektor, die Treppe hinaufsteigend.
Es hat ihm wohl vomBesitz derselben geträumt, antwortete der Gouverneur, und am andern Morgen ist er als Narr erwacht.
In der Tat, versetzte der Inspektor mitbezeichnender Naivität, wenn er wirklich reich gewesen wäre, so säße er nicht im Gefängnis.
So endigte die Inspektion für den Abbé. ErbliebGefangener, und sein Ruf als lustiger Narr wuchs noch infolge diesesBesuchs.
Was Dantesbetrifft, so hielt der Inspektor sein Wort.
Als er in die Wohnung des Gouverneurs kam, ließ er sich die Gefangenenliste geben.
Die den Gefangenenbetreffende Note lautete:
Edmond Dantes WütenderBonapartist, hat tätigen Anteil an der Rückkehr von der Insel Elba genommen.
Im geheimsten Gewahrsam und unter der strengsten Aufsicht zu halten.
Diese Note war von einer andern Handschrift und mit einer andern Tinte als das übrige Verzeichnis geschrieben, woraus hervorging, daß man sie während Dantes' Gefangenschaft hinzugefügt hatte.
Die Anklage war zubestimmt, als daß ein Ankämpfen dagegen möglich gewesen wäre. Der Inspektor schriebalso daneben: Nichts zu machen.
DieserBesuch hatte Dantes gleichsam wiederbelebt. Seitdem er ins Gefängnis gekommen war, hatte er die Tage zu zählen vergessen: aber der Inspektor gabihm ein neues Datum, und Dantes vergaß es nicht. Er schrieban die Wand mit einem Stück von der Decke gelösten Kalk den 30. Juli 1816, und von jetzt an machte er jeden Tag eine Kerbe, um fortlaufend das Datumbestimmen zu können.
Die Tage verliefen, dann die Wochen, dann die Monate; Dantes wartete immer. Er hatte damit angefangen, daß er einen Termin von vierzehn Tagenbis zu seinerBefreiung feststellte. Als diese vierzehn Tage abgelaufen waren, sagte er sich, es sei töricht von ihm, zu glauben, der Inspektor würde sich vor seiner Rückkehr nach Paris mit ihmbeschäftigen: seine Rückkehr könnte aber nicht eher stattfinden, alsbis er seine Rundreise vollendet hätte, und diese Rundreise dürfte einenbis zwei Monate dauern. Er verlängerte also die Frist auf drei Monate. Als drei Monate abgelaufen waren, bewilligte er sechs Monate. Als aber diese sechs Monate abgelaufen waren, stellte es sich heraus, daß er zehn und einen halben Monat gewartet hatte. Während dieser zehn Monate hatte sich nichts in seiner Lage geändert; keine tröstliche Nachricht war zu ihm gelangt; der Gefangenwärterbliebbei seinen Fragen stumm wie gewöhnlich. Dantes fing an, an seinen Sinnen zu zweifeln und zu glauben, was er für eine Erinnerung hielt, sei nichts als die tolle Ausgeburt seines Gehirns, und der tröstende Engel, der in seinem Gefängnisse erschienen, sei auf den Flügeln eines Traumes herabgekommen.
Nach Verlauf eines Jahres wurde der Gouverneur versetzt und nahm Dantes' Schließer mit. Ein neuer Gouverneur kam an. Es wäre für ihn zu zeitraubend gewesen, sich die Namen aller Gefangenen sagen zu lassen; er ließ sich nur ihre Nummern vorlegen. Das furchtbare Hotel garni auf Ifbestand aus fünfzig Zimmern; ihreBewohner wurden mit der Nummer des Zimmers, das sie inne hatten, vorgerufen, und der unglückliche junge Mann hörte auf, seinen Vornamen Edmond oder seinen Namen Dantes zu führen; er hieß Nummer 34.
Nummer 34 und Nummer 27
Dantes durchlief alle Stufen des Unglücks, welche den im Kerker der Vergessenheit überantworteten Gefangenenbevorstehen.
Die erste Stufe war der Stolz, eine Folge der Hoffnung und eines unschuldigen Gewissens. Dann fing er an, an seiner Unschuld zu zweifeln, was die Ansichten des Gouverneurs, sein Geist sei zerrüttet, einigermaßen rechtfertigte. Endlich sank er von der Höhe seines Stolzes herab; er flehte noch nicht zu Gott, aber zu den Menschen. Der Unglückliche, der mit dem Herrn anfangen sollte, gelangt erst dazu, auf ihn zu hoffen, wenn er alle andern Hoffnungen erschöpft hat.
Dantes flehte also, man möchte ihn aus seinem Kerker ziehen und ihn in einen andernbringen, und wäre er auch noch finsterer und tiefer. Eine Veränderung, ganz gleich was für eine, war doch immer eine Veränderung und sollte ihm wenigstens für ein paar Tage Zerstreuung verschaffen. Erbat um einen Spaziergang, um Luft, Bücher, Instrumente. Nichts wurde ihm gewährt. Trotzdem fuhr er fort zu flehen. Er hatte sich daran gewöhnt, mit seinem neuen Gefangenenwärter zu sprechen, obgleich dieser womöglich noch stummer war, als der vorhergehende; aber mit einem Menschen zu sprechen, wenn auch mit einem stummen, war für den Armen schon ein Vergnügen; er redete, um den Ton seiner eigenen Stimme zu hören. Er hatte auch versucht, zu sprechen, wenn er allein war, aber dann fürchtete er sich vor sich selbst.
Eines Tages ersuchte er sogar den Kerkermeister, er möge dem Gouverneur seineBitte um einen Gefährten vortragen, und wäre es auch der verrückte Abbé, von dem er hatte sprechen hören; man schlug ihm seineBitte ab.
Nachdem Dantes vergeblich alle menschlichen Hilfsmittel erschöpft hatte, kehrte er, wie es nicht anders sein konnte, zu Gott zurück. Er erinnerte sich der Gebete, die ihn seine Mutter gelehrt hatte, und fand in ihnen einen ihm früher unbekannten Sinn; erbetete aber nicht mit Inbrunst, sondern mit Leidenschaft. Wenn er lautbetete, erschrak er auch nicht mehr über seine Worte, sondern er geriet in Entzückung; er sah Gottbei jedem Worte erscheinen, das er aussprach. Alle Handlungen seinesbescheidenen Lebensbezog er auf den Willen dieses mächtigen Gottes, entnahm sich Lehren daraus und stellte sich Aufgaben, die er erfüllen wollte, und am Ende jedes Gebetes schlich sich der eigennützige Wunsch ein, den die Menschen viel öfter an ihre Mitmenschen, als an Gott zu richten Gelegenheit haben: Und vergibuns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!
Trotz seiner heißen GebetebliebDantes gefangen.
Nun verdüsterte sich sein Geist, und die Wolke vor seinen Augen wurde immer schwerer. Dantes war ein einfacher Mensch ohne Erziehung und ohne größeres Wissen, das ihm in seiner Einsamkeit hätte Trost und Unterhaltungbieten können. Auf seine schwärmerisch‑religiöse Aufregung folgte die Wut. Er schleuderte Gotteslästerungen um sich, vor denen der Kerkermeister vor Abscheu zurückwich. Er raste mit seinem Leibe gegen die Mauern des Gefängnisses, er griff in voller Wut nach allem, was ihn umgab, bei dem geringsten Ärger, den ein Sandkorn, ein Strohhalm, ein Windhauch in ihm erregte. Dann erinnerte er sich des denunzierendenBriefes, den er gesehen, den ihm Villefort gezeigt, den erberührt hatte, und jederBuchstabe kam wie ein züngelndes Feuer aus der Mauer hervor. Er sagte sich, es sei der Haß der Menschen und nicht die Rache Gottes, die ihn in diesen Abgrund gestürzt. Er überlieferte diese unbekannten Menschen allen Strafen, die seine glühende Einbildungskraft zu ersinnen vermochte, und fand, daß die furchtbarsten noch zu leicht undbesonders zu kurz für sie wären; denn nach den Strafen kam der Tod, und der Tod war, wenn nicht die Ruhe, doch wenigstens die Unempfindlichkeit, die ihr gleicht.