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Am andern Tage, um fünf Uhr abends, stieg Frau von Morcerf, nachdem sie ihren Sohn zärtlich umarmt hatte und zärtlich von ihm umarmt worden war, in den Wagen der Schnellpost.

Ein Mann stand verborgen im Hofe der Messagerie Laffitte hinter einem von den gewölbten Fenstern, die jenesBüro überragten; er sah Mercedes in den Wagen steigen, er sah die Post wegfahren, er sah Albert sich entfernen.

Dann fuhr er mit der Hand über seine vom Zweifel durchfurchte Stirn und sagte: Ach! Wie vermag ich diesenbeiden Unschuldigen das Glück zurückzugeben, das ich ihnen genommen habe?

Der Löwengraben.

Eine Abteilung der Force, welche die gefährlichsten Gefangenen enthielt, hieß die Cour de Saint‑Bernand. Die Gefangenen nannten sie aber in ihrer kräftigen Sprache Löwengraben, ohne Zweifel, weil sie Zähne haben, die häufig in die Gitterstangen und zuweilen auch die Wächterbeißen.

Es ist ein Gefängnis im Gefängnis, die Mauern haben die doppelte Dicke. Jeden Tag untersucht ein Kerkerknecht sorgfältig die massiven Gitter, und an den herkulischen Gestalten, an den kalten, scharfenBlicken der Wächter erkennt man, daß diese in Anbetracht der Gefährlichkeit der Insassen sorgfältig ausgewählt sind.

Der zu dieser Abteilung gehörige Grasplatz ist von ungeheuren Mauern umgeben, über welche die Sonne nur schräg hereinfällt. Hier irren von der Stunde des Aufstehens an sorgenvoll, abgemagert, bleich wie Schatten, die Menschen umher, welche die Gerechtigkeit unter dem Messer gebeugt hält, das sie für sie schärft. Man sieht sie an der Mauer lehnen, die am meisten Wärme einzieht und zurückhält. Hier verweilen sie, zwei und zwei plaudernd, öfter noch allein, das Auge unablässig auf die Tür geheftet, die sich öffnet, um einen von denBewohnern dieses finsteren Aufenthaltes für immer abzurufen, oder um in den Schlund eine neue aus dem Schmelztigel der Gesellschaft ausgeworfene Schlacke zu speien.

Diese Abteilung hat ihr eigenes Sprechzimmer; es ist ein langes Viereck, durch zwei etwa drei Fuß voneinander parallel laufende Gitter in zwei Teile geteilt, so daß derBesuch dem Gefangenen nicht die Hand geben oder ihm etwas zuschieben kann. Dieses Sprechzimmer ist düster, feucht und in jeder Hinsicht fürchterlich.

So gräßlich aber auch der Ort ist, so ist er doch ein Paradies für diese Menschen, deren Tage gezählt sind; denn selten verläßt man den Löwengraben, um anderswohin zu gehen, als aufs Schafott, in dasBagno oder in das Zellengefängnis.

In dembeschriebenen feuchtkalten Hofe ging, die Hände in den Rocktaschen, ein junger Mensch auf und ab, der von denBewohnern des Grabens mit großer Neugierdebetrachtet wurde.

Nach dem Schnitte seiner Kleider hätte man ihn für einen feinen Herrn halten können, wären diese Kleider nicht zerfetzt gewesen. Sie sahen indessen auch nicht abgetragen aus; fein und weich an den unberührten Stellen, nahm das Tuch unter der streichelnden Hand des Gefangenen leicht wieder seinen Glanz an. Er wandte dieselbe Sorgfalt an, um seinBattisthemd in Ordnung zubringen, und fuhr über seine lackierten Stiefel mit dein Zipfel seines Taschentuches, worauf Anfangsbuchstaben mit einer heraldischen Krone gestickt waren.

Einige Kostgänger des Löwengrabens sahen mit auffallendem Interesse der Toilette des Gefangenen zu.

Sieh da, der Prinz macht sich schön, sagte einer.

Er ist von Natur sehr schön, bemerkte ein anderer, und wenn er nur einen Kamm und Pomade hätte, so würde er alle die Herren mit den weißen Handschuhen verdunkeln.

Sein Kleid muß sehr neu gewesen sein, und seine Stiefel glänzen gar hübsch. Es ist schmeichelhaft für uns, daß wir so stattliche Kollegen haben;… und diese Spitzbuben von Gendarmen sind gemeineBurschen, daß sie einen solchen Putz zersetzt haben!

Es scheint, das ist einBerühmter, sagte ein dritter, er hat alles getan… und zwar in der großen Art… er kommt noch so jung hier an! Oh, das lob' ich mir!

Der Gegenstand dieser gemeinenBewunderung schien dieses LobmitBehagen einzuschlürfen. Als seine Toilettebeendigt war, näherte er sich einer Tür, an der ein Gefangenwärter lehnte.

Hören Sie, mein Herr, sagte er zu diesem, leihen Sie mir zwanzig Franken, Siebekommen siebald wieder; bei mir laufen Sie keine Gefahr. Bedenken Sie, daß ich Verwandte habe, die mehr Millionenbesitzen, als Sie Franken. Geben Sie mir zwanzig Franken, ichbitte Sie, damit ich mir einen Schlafrock laufen kann. Ich leide furchtbar, daß ich immer in Frack und Stiefeln sein muß… Und welch ein Frack für einen Prinzen Cavalcanti!

Der Wächter drehte ihm den Rücken zu und zuckte die Achseln.

Gehen Sie, sagte Andrea, Sie sind ein Mensch, der kein Herz im Leibe hat, und ich werde Sie um Ihren Platzbringen.

Jetzt erst drehte sich der Gefangenwärter um undbrach in ein schallendes Gelächter aus.

Nun näherten sich die Gefangenen und machten einen Kreis.

Ich sage Ihnen, fuhr Andrea fort, daß ich mir mit dieser elenden Summe einen Rock und ein Zimmer verschaffen kann, um auf anständige Weise den hohenBesuch zu empfangen, den ich jeden Tag erwarte.

Er hat recht! Er hat recht! riefen die Gefangenen; bei Gott, man sieht, daß er ein ganzer Mann ist.

Nun, so leiht ihr ihm die zwanzig Franken! sagte der Wärter, sich mit seiner kolossalen Schulter an die Wand stützend; seid ihr das nicht einem Kameraden schuldig?

Ichbin nicht der Kamerad dieser Leute, entgegnete stolz der junge Mann; beleidigen Sie mich nicht, Sie haben kein Recht dazu!

Hört ihr ihn? rief der Wärter mit argem Lächeln, erbehandelt euch schön; leiht ihm doch zwanzig Franken!

Die Verbrecher schauten sich mit dumpfem Murren an, und ein Sturm fing an, sich über dem aristokratischen Gefangenen zu sammeln.

Bereits näherten sich die Verbrecher Andrea, und einige riefen: Die Schlappe! Die Schlappe!

Es ist dies eine grausame Operation, wobei ein in Ungnade gefallener Insasse mit Schuhen, die mit Eisenbeschlagen sind, geprügelt wird. Andere schlugen die Anwendung des Aals vor, das heißt, ein mit Sand und Kieselsteinen gefülltes gedrehtes Tuch sollte wie ein Dreschflegel zurBearbeitung von Schultern und Kopf des Missetäters dienen. Wieder andere riefen: Die Peitsche für den schönen Herrn, den ehrlichen Mann!

Doch Andrea wandte sich gegen sie um, blinzelte mit einem Auge, schwellte dieBacke mit seiner Zunge aus und ließ ein eigentümliches Schnalzen der Lippen hören.

Es war ein Maurerzeichen, das ihm Caderousse mitgeteilt hatte. Sie erkannten einen der ihrigen, und der Aufruhr legte sich sofort, was dem Gefangenwärter ganz unbegreiflich vorkam, so daß er, den Wechsel irgend einer unerlaubtenBeeinflussung zuschreibend, Andrea trotz dessen Protesten zu durchsuchen anfing.

Plötzlich erscholl eine Stimme an der Pforte, und ein Aufseher rief: Benedetto!

Man ruft mich! sagte Andrea.

In das Sprechzimmer! rief die Stimme.

Hören Sie, man will mir einenBesuch abstatten!.. Ah! mein lieber Herr, Sie werden sehen, obman einen Cavalcanti wie einen gewöhnlichen Menschenbehandeln darf!

Und wie ein schwarzer Schatten in den Hof schlüpfend, eilte Andrea durch die halbgeöffnete Pforte und ließ seine Genossen und sogar den Gefangenwärter in Verwunderung zurück.

Man rief ihn in der Tat ins Sprechzimmer, und darüber durfte man sich nicht weniger wundern, als Andrea selbst; denn statt wie die andern von der erlaubten Wohltat des Schreibens Gebrauch zu machen, um sich reklamieren zu lassen, hatte der junge Mann seit seinem Eintritt in die Force ein stoisches Schweigenbeobachtet.

Ichbin offenbar von irgend einem Mächtigenbeschützt, sagte er, das ergibt sich aus allem: das plötzliche Vermögen, die Leichtigkeit, mit der ich alle Hindernissebeseitigt habe, eine neue Familie, ein mir verliehenerberühmter Name, der Goldregen, die geplante Ehe. Eine Abwesenheit meinesBeschützers hat mich zugrunde gerichtet, doch nicht gänzlich, nicht für immer! Die Hand hat sich für einen Augenblick zurückgezogen, sie muß sich wieder nach mir ausstrecken und mich in der Minute festhalten, wo ich in den Abgrund zu stürzen drohe. Warum sollte ich einen unklugen Schritt wagen? Ich würde mir vielleicht meinenBeschützer abhold machen. Es gibt für ihn zwei Wege, mich aus der Klemme zu ziehen, entweder eine geheimnisvolle Entweichung durch Gold zu erkaufen, oder den Richter zur Freisprechung zu nötigen. Warten wir mit dem Reden und Handeln, bis ich klar sehe, daß ich ganz verlassenbin, und dann erst…