Dadurch, daß er sich inBeziehung auf seine Feinde immer wieder sagte, die Ruhe sei im Tode, und der, welcher grausambestrafen wolle, bedürfe anderer Mittel, als des Todes, verfiel er auf Selbstmordgedanken. Wehe dem, der auf dem Abhang des Unglücksbei diesen unseligen Gedanken stille steht! Wird man von ihnen einmal recht gepackt, so ist alles vorbei, und jeder Versuch, den er unternimmt, reißt den Unglücklichen nur noch mehr in die Arme des Todes.
Sobald dieser Gedanke in dem Geiste des jungen Mannes gekeimt hatte, wurde er sanfter, freundlicher, er fügte sichbesser in sein hartesBett und in sein schwarzesBrot, aß weniger, schlief nicht mehr und fand diesen Rest des Daseins, den er ja, wann er wollte, von sich zu werfen vermochte, fast erträglich. Es gabzwei Mittel zu sterben. Das eine war einfach: er durfte nur sein Taschentuch an eine Fensterstangebinden und sich daran hängen; das anderebestand darin, daß er sich stellte, als äße er, und sich doch Hungers sterben ließ. Das erste widerstrebte Dantes. Er war im Abscheu vor den Seeräubern aufgewachsen, vor diesen Menschen, die man an den Raen aufhängt; das Hängen war für ihn eine Art von entehrender Strafe, die er nicht an sich selbst vollziehen wollte. Er wählte also das zweite Mittel undbegann die Ausführung noch an demselben Tage.
Es waren nunbeinahe vier Jahre hingegangen. Am Ende des zweiten hatte Dantes die Tage zu zählen aufgehört und von neuem die Kenntnis der Zeit verloren. Er hatte sich gesagt: Ich will sterben, und die Todesart gewählt; er hatte sich die Tat fest vorgenommen und aus Furcht, er könnte von seinem Entschlusse abgehen, sich selbst einen Eid geleistet, so zu sterben. Wenn man mir mein Frühstück und mein Abendbrotbringt, sagte er sich, so werfe ich die Speisen zum Fenster hinaus, und man wird glauben, ich habe sie verzehrt.
Er tat, wie er es sich gelobt hatte. Zweimal des Tages warf er durch die kleine, vergitterte Öffnung, die ihn nur den Himmel erschauen ließ, die Speisen, anfangs heiter, dann mit Überlegung und endlich mitBedauern. Die Lebensmittel, die ihn einst angewidert hatten, ließ jetzt der scharfzähnige Hunger seinem Auge appetitlich und seiner Nase köstlich erscheinen. Zuweilen hielt er eine Stunde lang die Platte, auf der sie lagen, in der Hand, das Auge starr auf ein Stück faules Fleisch, auf den übelriechenden Fisch und auf das schwarze, schimmeligeBrot richtend. Es waren die letzten Instinkte des Lebens, die noch in ihm kämpften und seinen Entschluß wankend machten. Dann erschien ihm sein Kerker nicht mehr so düster und sein Zustand minder verzweiflungsvoll. Er war noch jung, er mußte erst fünf- oder sechsundzwanzig Jahre alt sein, esblieben ihm noch fünfzig Jahre zu leben übrig, das heißt, zweimal so viel, als erbereits gelebt hatte. Welche Ereignisse konnten während dieses unermeßlichen Zeitraumes die Türen sprengen, die Mauern des Kastells If umstürzen und ihm die Freiheit wiedergeben! Dann näherte er seine Zähne dem Mahle, das er, ein freiwilliger Tantalus, selbst von seinem Munde entfernte. Doch er erinnerte sich seines Schwures, und seine edle Natur schrak zu sehr davor zurück, sich selbst verachten zu müssen, als daß sie diesen Schwur verletzt hätte. Er zerstörte also streng und unbarmherzig das wenige Leben, das ihm noch übrigblieb, und es erschien ein Tag, wo er nicht mehr die Kraft hatte, aufzustehen, um das Abendbrot, das man ihmbrachte, durch das Luftloch zu werfen.
Am andern Tage sah er nichts mehr, und auch sein Gehör war schon merklich schwächer geworden. Der Kerkermeister glaubte an eine ernste Krankheit; Edmond hoffte auf einen nahen Tod. So verlief der Tag. Edmond fühlte, daß eine Art Erstarrung, die ihm ein gewisses Wohlbehagenbereitete, sich seinerbemächtigte. Die Zuckungen seines Magens hatten sich gemildert. Wenn er die Augen schloß, sah er eine Anzahl glänzender Punkte, Irrlichtern gleich, über die Wände tanzen. Es war die Dämmerung des unbekannten Landes, das man den Tod nennt.
Plötzlich vernahm er abends 9 Uhr ein dumpfes Geräusch an der Wand, an der er lag. — Ratten und ähnliche Tiere hatten in seinem Kerker so oft Lärm gemacht, daß Edmond allmählich in seinem Schlaf durch solche Kleinigkeiten nicht mehr gestört wurde. Aber dieser Lärm war so stark und so eigentümlich, daß er sich erhob, umbesser zu hören.
Es war ein Kratzen, das von einer ungeheuren Kralle, einem mächtigen Zahn, oder vom Druck irgend eines Werkzeuges auf die Steine herzurühren schien.
Trotz seines geschwächten Zustandes wurde der junge Mann durch denbeständig den Geist des Gefangenenbeschäftigenden Gedanken an die Freiheit heftigbewegt. Da aber dieses Geräusch gerade in dem Augenblick laut wurde, wo alles Geräusch für ihn aufhören sollte, so schien es ihm, als wollte sich Gott endlichbarmherzig gegen seine Leiden zeigen und ihm durch dieses Geräusch verkündigen, er solle am Rande des Grabes, an dembereits sein Fuß wankte, still stehen. Wer konnte wissen, obnicht einer von seinen Freunden, eines von den geliebten Wesen, an die er so oft gedacht hatte, sich in diesem Augenblicke mit ihmbeschäftigte und die Entfernung, die sie voneinander trennte, aufzuheben suchte?
Aber nein, er täuschte sich ohne Zweifel und wurde von einem Traume verführt, wie sie die Pforte des Todes umschweben.
Jedoch das Geräusch hörte nicht auf; es dauerte ungefähr drei Stunden; dann vernahm Edmond eine Art von Rollen, und nun verstummte das Geräusch, um erst nach einigen Stunden wieder näher und näher zu ertönen. Schon war sein Interesse für diese sonderbaren Töne, die auf ihnBeziehung zu haben schienen, erwacht, da plötzlich trat der Gefangenwärter ein.
Seit den acht Tagen, da er zu sterbenbeschlossen hatte, hatte Edmond mit diesem Menschen kein Wort gesprochen. Er antwortete ihm nicht, wenn er ihn fragte, von welcher Krankheit erbefallen sei, und wandte sich nach der Mauer um, wenn er zu aufmerksambetrachtet wurde. Aber heute fürchtete er, der Wärter könnte das dumpfe Geräusch vernehmen, sich darüberbeunruhigen, ihm ein Endebereiten und so irgend eine Hoffnung zerstören, die schon in der Vorstellung Dantes' letzte Augenblicke verschönerte.
Er erhobsich daher in seinemBette undbegann, seine Stimme möglichst verstärkend, über alle möglichen Gegenstände zu sprechen, über die schlechten Speisen, die man ihmbrachte, über die Kälte, die er in seinem Kerker leiden müsse; er murrte undbrummte und ermüdete die Geduld des Wärters, der gerade an diesem Tage sich für den Gefangenen Fleischbrühe und ein weißesBrot erbeten hatte. Zum Glücke glaubte er, Dantes rede im Fieber; er stellte die Speisen auf den schlechten, wackligen Tisch und entfernte sich.
Nun fing Edmond wieder an, freudig zu horchen. Das Geräusch wurde so deutlich, daß er es jetzt ohne die geringste Anstrengung hören konnte.
Es unterliegt keinem Zweifel mehr, sagte er zu sich selbst, da dieses Geräusch fortdauert, obgleich esbereits Tag ist, so muß es ein unglücklicher Gefangener wie ich sein, der an seinerBefreiung arbeitet. Oh! wenn ichbei ihm wäre, wie wollte ich ihn unterstützen!
Dann schwand plötzlich wieder die Hoffnung in seinem Gehirn, das an das Unglück gewöhnt war und nur schwer an etwas Freudiges glauben konnte. Er kam auf den Gedanken, das Geräusch werde durch Arbeiter verursacht, die der Gouverneur irgend eine Mauerarbeit machen lasse.
Er konnte sich hiervon leicht überzeugen; aber wie sollte er eine Frage wagen? Er konnte allerdings warten, bis sein Kerkermeister wiederkäme, konnte ihn das Geräusch hören lassen und seine Mienebeobachten, wenn er es hörte. Aber hieß das nicht die kostbarsten Interessen für einen kurzen Genuß verraten? Edmond fand nur ein Mittel, scharfe Überlegung und klares Urteil wiederzugewinnen: er wandte seine Augen nach der noch rauchenden Fleischbrühe, die der Gefangenwärter auf den Tisch gestellt hatte, ging wankend hin, setzte die Tasse an den Mund und schlürfte den Trank mit einem unbeschreiblichen Gefühle des Wohlbehagens.