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Man wird ihm mildernde Umstände zubilligen! antwortete dieser.

Die Sühne.

Es wäre schwierig, den Zustand derBetäubung zubeschreiben, in dem sich Herr von Villefortbefand, als er den Palast verließ, das Fieber zu schildern, das jede Arterie schlagen, jede Faser seines Leibes erstarren ließ und jede Vene zum Zerspringen anschwellte. Er schleppte sich mühsam die Gänge entlang; er warf die Toga desBeamten von seinen Schultern, weil sie für ihn jetzt eine niederdrückende Last geworden war. Er kam wankendbis zur Cour Dauphine, erblickte seinen Wagen, öffnete selbst den Schlag und sank, mit dem Finger die Richtung des Faubourg Saint‑Honoré andeutend, auf die Kissen.

Das ganze Gewicht seines zusammengestürzten Glückes war auf sein Haupt gefallen; dieses Gewicht drückte ihn nieder, ohne daß er genau die Folgen davon kannte; er hatte diese nicht ermessen, er fühlte sie nur.

Gott! murmelte er, ohne nur zu wissen, was er sagte.

Der Wagen rollte rasch fort; heftig sich auf den Kissen hin und herbewegend, fühlte Villefort einen Gegenstand, der ihnbelästigte, es war ein Fächer, den Frau von Villefort zwischen den Kissen des Wagens hatte liegen lassen; dieser Fächer erweckte eine Erinnerung, und diese Erinnerung war wie einBlitz mitten in der Nacht.

Villefort dachte an seine Frau.

Oh! oh! rief er, als obein glühendes Eisen sein Herz durchdränge.

Seit einer Stunde hatte er in der Tat nur eine Seite seines Unglücks vor Augen, und nunbot sich seinem Geiste plötzlich eine andere, nicht minder furchtbare.

Diese Frau! Er war gegen sie kurz zuvor als unerbittlicher Richter verfahren, er hatte sie zum Tode verurteilt. Und vom Schrecken ergriffen, von Gewissensbissen niedergeschmettert, in den Abgrund der Schande gestürzt, den er durch dieBeredsamkeit seiner vorwurfsfreien Tugend vor ihr geöffnet hatte, schwach und wehrlos gegen seine unumschränkte oberste Gewalt, schickte sich die arme Frau in diesem Augenblick vielleicht an, zu sterben!

Eine Stunde war seit ihrer Verurteilung abgelaufen. Ohne Zweifel stellte sie sich in dieser Minute in ihrem Gedächtnis alle ihre Verbrechen vor, bat Gott um Gnade und schriebeinenBrief, um auf den Knien die Verzeihung ihres tugendhaften Gatten anzuflehen, eine Verzeihung, die sie mit ihrem Tode erkaufte.

Villefort stieß ein zweites Gebrüll des Schmerzes und der Wut aus.

Ah! rief er, sich auf dem Atlaskissen seiner Karosse wälzend, diese Frau ist nur Verbrecherin geworden, weil sie michberührt hat. Ich schwitze das Verbrechen aus, und sie ist davon angesteckt, wie man vom Typhus, von der Cholera, der Pest angesteckt wird, und ichbestrafe sie! Oh! nein! nein! sie wird leben… sie wird mir folgen… Wir fliehen, verlassen Frankreich und wandern fort und fort, solange uns die Erde trägt. Ich sprach zu ihr vom Schafott!.. Großer Gott! Wie konnte ich es wagen, dieses Wort auszusprechen! Auch mich erwartet das Schafott… Wir werden fliehen… Ja, ich will ihrbeichten; ja, jeden Tag will ich mich demütigen, ihr sagen, daß ich auch ein Verbrechenbegangen habe. Oh! Herrliche Verbindung des Tigers und der Schlange! Oh! Würdige Frau eines Mannes, wie ichbin! Sie soll leben, meine Schande soll die ihrige noch überstrahlen und sie verschwinden lassen.

Villefort stieß heftig das Vorderfenster seines Coupés herabund rief mit einer Stimme, die den Kutscher von seinem Sitze auffahren ließ: Vorwärts! Geschwinder! Geschwinder!

Von Furcht getrieben, flogen die Pferdebis an sein Haus.

Ja, ja, wiederholte sich Villefort, während er sich seiner Wohnung näherte, ja, diese Frau soll leben, sie sollbereuen und meinen Sohn erziehen, mein armes Kind, das einzige Wesen meiner Familie, das außer dem unzerstörbaren Greise der Vernichtung entgangen ist. Sie liebte den Knaben; für ihn hat sie alles getan. Man darf nie an dem Herzen einer Mutter verzweifeln, die ihr Kind liebt; sie wirdbereuen, und niemand wird erfahren, daß sie schuldig war. Die in meinem Hause verübten Verbrechen werden mit der Zeit vergessen; oder erinnern sich ihrer einige Feinde, so nehme ich sie auf das Register meiner Frevel. Meine Frau wird leben, sie wird noch glücklich sein, weil sich ihre ganze Liebe in ihrem Sohne zusammendrängt und ihr Sohn sie nicht verlaßt. Ich werde eine gute Handlung verrichtet haben, und das erleichtert das Herz.

Und der Staatsanwalt atmete freier, als er es seit langen Minuten getan. Der Wagen hielt im Hofe des Hotels an.

Villefort stürzte von dem Fußtritt auf die Freitreppe; er sah, wie die Diener darüber staunten, daß er so schnell zurückkam. Er las nichts anderes auf ihrem Antlitz; keiner richtete das Wort an ihn; manbliebvor ihm stehen, wie gewöhnlich, um ihn vorbeigehen zu lassen — mehr nicht.

Er kam an Noirtiers Zimmer vorüber und erblickte durch die halboffene Türe etwas wie zwei Schatten; doch ihn kümmerte es nicht, werbei seinem Vater war; seine Unruhe triebihn vorwärts.

Gut, sagte er, die kleine Treppe hinaufsteigend, die zu dem Vorplatze führte, auf den die Wohnung seiner Frau und Valentines Zimmer mündeten, gut, es hat sich hier nichts geändert.

Er schloß vor allem die Tür des Vorplatzes.

Niemand darf uns stören, sagte er; ich muß frei mit ihr sprechen, mich vor ihr anklagen, ihr alles mitteilen können.

Er näherte sich der Tür, legte die Hand auf den kristallenen Knopf, die Tür gabnach.

Nicht geschlossen! Oh! Gut, sehr gut! murmelte er und umfaßte mit einemBlicke den ganzen Salon. Niemand, sagte er; ohne Zweifel ist sie in ihrem Schlafzimmer.

Er eilte nach der Tür. Hier war der Riegel vorgeschoben. Schauerndblieber stehen und rief: Heloise!

Es kam ihm vor, als verrücke man einen Schrank.

Heloise! wiederholte er.

Wer ist da? fragte die Stimme der Gerufenen.

Er glaubte, diese Stimme sei schwächer als gewöhnlich.

Öffnen Sie, öffnen Sie, rief Villefort, ichbin es.

Doch trotz diesesBefehles, trotz des ängstlichen Tones, mit dem er gegeben wurde, öffnete man nicht.

Villefort stieß die Tür mit einem Fußtritte ein.

Am Eingang des Zimmers, das in ihrBoudoir ging, stand Frau von Villefort, bleich, mit verzogenem Gesicht und schaute ihn mit furchtbar starren Augen an.

Heloise! rief er, was haben Sie, sprechen Sie!

Die junge Frau streckte ihre starre, leichenblasse Hand gegen ihn aus.

Es ist geschehen, mein Herr, sagte sie mit einem Röcheln, das ihren Schlund zu zerreißen schien: Was wollen Sie noch mehr von mir?

Und sie stürzte plötzlich zuBoden.

Villefort lief auf sie zu und faßte siebei der Hand, in der sie krampfhaft ein kristallenes Fläschchen hielt.

Frau von Villefort war tot.

Außer sich vor Schrecken wich Villefortbis auf die Schwelle des Zimmers zurück und schaute die Leiche an.

Mein Sohn! rief er plötzlich, wo ist mein Sohn? Eduard! Eduard!

Er stürzte aus dem Zimmer und schrie nach Eduard mit einem solchen Tone der Angst, daß dieBedienten herbeiliefen.

Mein Sohn! Wo ist mein Sohn? fragte Villefort, man entferne ihn von dem Hause, er soll nicht sehen…

Herr Eduard ist nicht unten, antwortete der Kammerdiener.

Er spielt ohne Zweifel im Garten; seht nach! seht nach!

Nein, Herr Staatsanwalt, die gnädige Frau hat ihren Sohn vor ungefähr einer halben Stunde gerufen; Herr Eduard ist zu ihr hineingegangen und seitdem nicht mehr herausgekommen.

Ein eiskalter Schweiß überströmte Villeforts Stirn; seineBeine strauchelten, seine Gedanken fingen an, sich wie das in Unordnung gebrachte Räderwerk einer zerbrochenen Uhr in seinem Kopfe zu drehen.

Zu ihr! murmelte er, zu ihr! Und er kehrte langsam um und wischte sich mit einer Hand den Schweiß ab, während er sich mit der andern an die Wand stützte.

In das Zimmer zurückkehrend, mußte er abermals den Leichnam der unglücklichen Frau sehen.