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Villefort fühlte seine Zunge im Schlunde gelähmt.

Eduard! Eduard! stammelte er.

Das Kind antwortete nicht; wo mochte das Kind sein, das nach Aussage der Diener zu seiner Mutter hineingegangen und nicht wieder herausgekommen war?

Villefort machte einen Schritt vorwärts.

Der Leichnam der Frau von Villefort lag quer vor der Tür desBoudoirs, in dem sich Eduardbefinden mußte; dieser Leichnam schien mit starren, offenen Augen, mit einer gräßlichen, geheimnisvollen Ironie auf den Lippen an der Schwelle zu wachen.

Hinter dem Leichnam ließ der halbaufgehobene Türvorhang einen Teil desBoudoirs, ein Klavier und das Ende eines Diwans vonblauem Atlasbemerken.

Villefort machte ein paar Schritte vorwärts und sah auf dem Sofa sein Kind liegen. Es schlief ohne Zweifel.

Er nahm das Kind in seine Arme, preßte es, schüttelte es, rief es; das Kind antwortete nicht. Er drückte seine gierigen Lippen auf seine Wangen; diese Wangen warenbleich und eisig; er riebseine starren Glieder, er legte seine Hand auf sein Herz, — das Herz schlug nicht mehr. Das Kind war tot. Ein viereckiges zusammengelegtes Papier fiel aus EduardsBrust. Wie vomBlitze getroffen, sank Villefort auf seine Knie; das Kind entschlüpfte seinen schlaffen Armen und rollte an die Seite seiner Mutter.

Villefort hobdas Papier auf, erkannte die Schrift seiner Frau und durchlief es gierig. Es enthielt folgende Worte: Sie wissen, obich eine gute Mutter war, da ich mich für meinen Sohn zur Verbrecherin gemacht habe. Eine gute Mutter reist nicht ohne ihren Sohn!

Villefort wollte seinen Augen nicht trauen, seiner Vernunft nicht glauben; er schleppte sich zu Eduards Körper, untersuchte ihn noch einmal mit ängstlicher Aufmerksamkeit, und ein herzzerreißender Schrei drang aus seinerBrust hervor.

Gott! murmelte erbeständig, Gott!

Diebeiden Opfer flößten ihm Entsetzen ein; er fühlte, wie sich der Schauer der die zwei Leichnamebergenden Einsamkeit seinerbemächtigte. Erbeugte sein Haupt unter dem Gewichte der Schmerzen, er erhobsich auf seine Knie, schüttelte seine von Schweiß feuchten, vor Schrecken emporgesträubten Haare, — und er, der nie Mitleid mit jemand gehabt hatte, suchte den Greis, seinen Vater, auf, um irgend jemand zu haben, dem er sein Unglück erzählen, bei dem er weinen könnte.

Noirtier schien aufmerksam, freundlich auf den wie gewöhnlich ruhigen und kalten AbbéBusoni zu hören.

Als Villefort den Abbé erblickte, fuhr er mit der Hand nach seiner Stirn. Die Vergangenheit kehrte zu ihm zurück; er erinnerte sich desBesuches, den er dem Abbé zwei Tage nach dem Mittagsmahle in Auteuil gemacht, und desBesuches, den ihm der Abbé am Todestage von Valentine abgestattet hatte.

Sie hier, mein Herr! sagte er; Sie erscheinen also immer nur in diesem Hause, um den Tod zu geleiten?

Busoni richtete sich auf. Als er die verstörten Gesichtszüge desBeamten, den wilden Glanz seiner Augen wahrnahm, begriff er, oder glaubte er zubegreifen, daß die Szene vor dem Schwurgericht sich abgespielt hatte; das übrige wußte er nicht.

Ichbin damals gekommen, umbei dem Leichnam Ihrer Tochter zubeten, antworteteBusoni.

Und warum kommen Sie heute hierher?

Ich komme, um Ihnen zu sagen, daß Sie Ihre Schuld hinreichendbezahlt haben, und daß ich von diesem Augenblicke an Gottbitten werde, er möge zufrieden sein, wie ich.

Mein Gott! rief Villefort erschreckt zurückweichend, diese Stimme ist nicht die des AbbésBusoni!

Nein.

Der Abbé riß seine falsche Tonsur ab, schüttelte den Kopf, und seine langen, schwarzen Haare fielen, vom Zwangebefreit, auf seine Schultern herabund umrahmten sein männliches Antlitz.

Es ist das Gesicht des Herrn von Monte Christo, rief Villefort mit stieren Augen.

Auch das ist es nicht, Herr Staatsanwalt, suchen Siebesser und ferner.

Diese Stimme! Diese Stimme! Wo habe ich sie zum ersten Male gehört?

Sie haben sie zum ersten Male in Marseille gehört vor einundzwanzig Jahren, am Tage Ihrer Verlobung mit Fräulein von Saint‑Meran. Suchen Sie in Ihren Akten!

Sie sind nichtBusoni? Sie sind nicht Monte Christo? Mein Gott, Sie sind jener verborgene Todfeind! Ich habe in Marseille etwas gegen Sie getan, oh! wehe mir!

Ja, du hast recht, sagte der Graf, die Arme über seinerbreitenBrust kreuzend; suche! suche!

Aber was habe ich dir denn getan? rief Villefort, dessen Geistbereits auf der Grenze schwebte, wo sich Vernunft und Unvernunft vermengen und der Wahnsinn droht, was habe ich dir getan? Sage! Sprich!

Sie haben mich zu einem langsamen, gräßlichen Tode verurteilt, Sie haben meinen Vater getötet, Sie haben mir mit der Freiheit die Liebe und mit der Liebe das Glück geraubt!

Wer sind Sie? Mein Gott! Wer sind Sie denn?

Ichbin das Gespenst eines Unglücklichen, den Sie in dein Kerker des Schlosses Ifbegraben haben. Diesem aus seinem Grabe hervorgegangenen Gespenst hat Gott die Maske des Grafen von Monte Christo gegeben, er hat es mit Diamanten und Goldbedeckt, damit Sie es erst heute erkennen sollen.

Ah! Ich erkenne dich, ich erkenne dich! sprach der Staatsanwalt; dubist…

Ichbin Edmond Dantes!

Dubist Edmond Dantes! rief der Staatsanwalt, den Grafenbeim Handgelenke fassend, so komm.

Und er zog ihn nach der Treppe, zu der ihm Monte Christo, ohne zu wissen, wohin ihn der Staatsanwalt führte, aber eine neue Katastrophe ahnend, folgte.

Sieh, Edmond Dantes, sagte er, dem Grafen den Leichnam seiner Frau und den Körper seines Sohnes zeigend; sieh hier! Bist du gerächt?

Monte Christo erbleichtebei diesem furchtbaren Schauspiel; erbegriff, daß er die Rechte der Rache überschritten hatte; erbegriff, daß er nicht mehr sagen konnte: Gott ist für mich und mit mir.

Er warf sich mit einer Empfindung unaussprechlicher Angst auf den Körper des Kindes, öffnete seine Augen, befühlte seinen Puls und stürzte mit ihm in Valentines Zimmer, das er doppelt schloß.

Mein Kind, rief Villefort, er trägt den Leichnam meines Kindes fort! Oh! Fluch! Unglück! Tod über dich!

Und er wollte Monte Christo nachstürzen; aber er fühlte, daß seine Füße wie in einem Traume Wurzel faßten, seine Augen erweiterten sich, als wollten sie ihre Höhlen sprengen. Die Adern seiner Schläfen schwollen an.

Diese Starrheit dauerte mehrere Minuten, bis die gräßliche Umwälzung der Vernunft vollbracht war. Dann stieß er einen Schrei aus, schlug ein langes Gelächter an und stürzte nach der Treppe.

Eine Viertelstunde nachher öffnete sich das Zimmer Valentines wieder, und der Graf von Monte Christo erschien auf der Schwelle. Er warbleich, sein Auge finster, seineBrust gepreßt. Alle Züge des sonst so ruhigen Gesichtes waren vom Schmerz verstört.

Er hielt in seinen Armen das Kind, dem keine Hilfe das Leben hatte zurückgeben können.

Der Graf setzte ein Knie auf die Erde und legte den Knaben mit frommer Gebärde neben seiner Mutter so nieder, daß sein Kopf auf ihrerBrust ruhte.

Dann stand er auf, ging hinaus und fragte einenBedienten: Wo ist Herr von Villefort?

DerBediente streckte, ohne zu antworten, die Hand nach dem Garten aus. Monte Christo stieg die Treppe hinab, schritt auf denbezeichneten Ort zu und sah mitten unter seinen Dienern Villefort, der, einen Spaten in der Hand, die Erde mit einer Art von Wut durchwühlte und vor sich hinmurmelte: Es ist noch nicht hier, es ist noch nicht hier!

Monte Christo näherte sich ihm und sprach ganz leise, mitbeinahe demütigem Tone: Mein Herr, Sie haben einen Sohn verloren; doch…

Villefort unterbrach ihn; er hatte weder gehört noch gesehen. Oh! Ich werde ihn wiederfinden, sagte er; Sie mögen immerhinbehaupten, er sei nicht da, ich werde ihn wiederfinden, und müßte ichbis zum Tage des jüngsten Gerichtes suchen.

Monte Christo wich voll Schrecken zurück. Ha! er ist wahnsinnig, murmelte er. Und als hätte erbefürchtet, die Mauern des verfluchten Hauses könnten über ihm einstürzen, lief er auf die Straße, zum ersten Male zweifelnd, ober das Recht gehabt, zu tun, was er getan.