Ach! Alle Ihre Worte, gnädige Frau, fallenbitter undbrennend auf mein Herz, um sobitterer und um sobrennender, als Sie recht haben, wenn Sie mich hassen; ich habe Ihr ganzes Unglück verursacht. Warum werfen Sie mir meine Schuld nicht vor, warum klagen Sie mich nicht an?
Sie hassen, Sie anschuldigen! Sie, Edmond… den Mann, der meinem Sohne das Leben gerettet hat, hassen, anschuldigen! Denn nicht wahr, es ist Ihre unselige, blutige Absicht gewesen, Herrn von Morcerf den Sohn zu töten, auf den er so stolz war? Oh! Schauen Sie mich an, und Sie werden sehen, oban mir auch nur ein Schein von Vorwurf wahrzunehmen ist.
Der Graf schlug seine Augen auf undbetrachtete Mercedes, die, sich halbaufrichtend, ihre Hände gegen ihn ausstreckte.
Oh! Schauen Sie mich an, fuhr sie mit einem Gefühle tiefer Schwermut fort; man kann den Glanz meiner Augen heute ertragen, die Zeit ist vorüber, wo ich Edmond Dantes zulächelte, der mich dort an dem Fenster jener von seinem alten Vaterbewohnten Mansarde erwartete… Seit damals sind viele schmerzliche Tage vergangen und haben einen Abgrund zwischen mir und jener Zeit gegraben. Sie anklagen, Edmond, Sie hassen, mein Freund, nein! Mich klage ich an, mich hasse ich! Oh! Ich Elende! rief sie, die Hände faltend und die Augen zum Himmel aufschlagend. Wiebin ichbestraft worden!.. Ich hatte die Religion, die Unschuld, die Liebe, dieses dreifache Glück, das die Engelbildet, und ich Elende zweifelte an Gott.
Monte Christo ging einen Schritt auf sie zu und reichte ihr schweigend die Hand.
Nein, sagte sie, sacht die ihrige zurückziehend, nein, mein Freund, berühren Sie mich nicht. Sie haben mich verschont, und dennoch war ich von allen, die Sie geschlagen haben, die Schuldigste. Alle haben aus Haß, aus Habgier, aus Selbstsucht gehandelt, ich handelte aus Feigheit; sie wurden vonBegierden getrieben, und mich triebdie Furcht. Nein, drücken Sie meine Hand nicht, Edmond. Sie sinnen auf ein liebevolles Wort, ich fühle dies; sagen Sie es nicht, behalten Sie es für eine andere, ichbin dessen nicht würdig. Sehen Sie… das Unglück hat meine Haare grau gemacht; meine Augen haben so viele Tränen vergossen, daß sie vonblauen Adern umzogen sind; meine Stirn runzelt sich. Sie, Edmond, sind im Gegenteil immer jung, immer schön, immer stolz. Das kommt davon her, daß Sie den Glauben, daß Sie die Kraft gehabt haben, daß Sie auf Gottbauten, daß Gott Sie unterstützte. Ichbin feig gewesen, ich habe Gott verleugnet, Gott hat mich verlassen, und sobin ich nur noch eine Ruine.
Mercedes zerfloß in Tränen; das Herz der Fraubrach unter dem gewaltigen Stoße der Erinnerungen.
Monte Christo nahm ihre Hand und küßte sie ehrfurchtsvoll; aber sie fühlte selbst, daß dieser Kuß ohne Glut war, wie der, den der Graf auf die marmorne Hand derBildsäule einer Heiligen gedrückt hätte.
Es gibt von vornherein verdammte Wesen, fuhr sie fort, Wesen, deren ganze Zukunft ein erster Fehler zertrümmert. Ich hielt Sie für tot und hätte sterben sollen; denn wozu nutzte es, die Trauer um Sie ewig im Herzen zu tragen? Nur dazu, aus einer Frau von neununddreißig Jahren eine Frau von fünfzig zu machen. Wozu hat es genutzt, daß ich Sie allein unter allen erkannte und so meinen Sohn retten konnte? Mußte ich nicht den Mann, den ich als Gatten angenommen, so schuldig er auch war, ebenfalls retten? Doch ich ließ ihn sterben; mein Gott! Was sage ich, ich trug durch meine feige Unempfindlichkeit, durch meine Verachtung zu seinem Todebei, indem ich mich nicht erinnerte, nicht erinnern wollte, daß er sich meinetwegen zum Verräter und Meineidigen gemacht hatte! Wozu nutzt es endlich, daß ich meinen Sohnbis hierherbegleitet habe, da ich mich hier von ihm trenne, da ich ihn allein abreisen lasse, da ich ihn dem verzehrendenBoden Afrikas preisgebe! Oh! Ichbin feig gewesen, sage ich Ihnen, ich habe meine Liebe verleugnet undbringe allem, was mich umgibt, Unglück.
Nein, Mercedes, sagte Monte Christo, nein! Fassen Sie einebessere Meinung von sich selbst. Nein, Sie sind eine edle, fromme Frau und haben mich durch Ihren Schmerz entwaffnet; doch unsichtbar war hinter mir ein Gott, in dessen Auftrag ich handelte, und der denBlitz, den ich geschleudert hatte, nicht zurückhalten wollte. Oh! Ichbeschwöre diesen Gott, zu dessen Füßen ich mich seit zehn Jahren jeden Tag niederwerfe, ich rufe diesen Gott zum Zeugen an, daß ich Ihnen dieses Leben und mit diesem Leben die Pläne, die damit verbunden waren, zum Opfer gebracht hatte. Doch ich sage es mit Stolz, Mercedes, Gottbedurfte meiner, und ich starbnicht. Prüfen Sie die Vergangenheit, prüfen Sie die Gegenwart, suchen Sie die Zukunft zu erraten, und sehen Sie, obich nicht das Werkzeug des Herrnbin. Das gräßlichste Unglück, die grausamsten Leiden, der Abfall aller derer, die mich liebten, die Verfolgung der Menschen, die mich nicht kannten, das war der Inhalt des ersten Abschnittes meines Lebens. Dann plötzlich, nach der Gefangenschaft, nach der Einsamkeit, nach dem Elend die Luft, die Freiheit, ein so glänzendes, so wunderbares, so maßloses Glück, daß ich, ohneblind zu sein, denken mußte, Gott habe es mir mit großen Absichten geschickt. Von da an erschien mir dieses Glück als ein Priestertum; von da an hatte kein Gedanke mehr für dieses Leben, dessen Süßigkeit Sie, arme Frau, zuweilen genossen haben, in mir Raum; keine Stunde der Ruhe, nicht eine einzige, gabes mehr für mich. Ich fühlte mich fortgetrieben, wie die feurige Wolke, die am Himmel hinzieht, um die verfluchten Städte in Asche zu legen. Früher gut, vertrauensvoll, nachsichtig, machte ich mich rachsüchtig, heuchlerisch, böse, oder vielmehr unempfindlich, wie das taube undblinde Verhängnis. Dannbetrat und durchschritt ich den Pfad, der sich vor mir geöffnet hatte, ichberührte das Ziel; wehe denen, die ich auf meinem Wege traf!
Genug! sagte Mercedes, genug, Edmond! Glauben Sie mir, daß die, welche Sie allein zu erkennen vermochte, auch allein Sie verstehen konnte. Edmond, hätten Sie die, welche Sie zu erkennen, zubegreifen vermochte, auf Ihrem Wege getroffen, und wie ein Glas zerbrochen, sie hätte Siebewundern müssen, Edmond! Wie eine Kluft zwischen mir und der Vergangenheitbefestigt ist, sobesteht auch eine Kluft zwischen Ihnen und den andern Menschen, und meine schmerzlichste Qual, ich sage es Ihnen, ist es zu vergleichen; denn es gibt nichts auf der Welt, was Ihnen an Wert gleichkommt, nichts, was Ihnen ähnlich ist. Nun, sagen Sie mir Lebewohl, Edmond, und trennen wir uns!
Ehe ich Sie verlasse, was wünschen Sie, Mercedes?
Ich wünsche nur eines, Edmond, daß mein Sohn glücklich werde.
Bitten Sie den Herrn, der allein das Dasein der Menschen in seinen Händen hält, er möge den Tod von ihm fernhalten, das übrige sei meine Sorge.
Ich danke, Edmond.
Doch Sie, Mercedes?
Ichbrauche nichts, ich lebe zwischen zwei Gräbern; das eine ist das von Edmond Dantes, der vor langer Zeit gestorben; ich liebte ihn! Dieses Wort paßt nicht mehr zu meiner verwelkten Lippe, doch mein Herz erinnert sich noch dessen, und um keinen Preis der Welt möchte ich dieses Andenken meines Herzens verlieren. Das andere ist das eines Menschen, den Edmond Dantes getötet hat; ichbillige die Tat, aber ich muß für den Totenbeten.
Ihr Sohn wird glücklich werden, wiederholte der Graf.
Dann werde ich so glücklich sein, wie ich sein kann.
Doch was gedenken Sie… am Ende… zu tun?
Mercedes lächelte traurig.
Wollte ich Ihnen sagen, ich werde in dieser Gegend leben, wie die Mercedes von ehemals, das heißt arbeiten, so würden Sie mir nicht glauben; ich vermag nur noch zubeten, doch ichbedarf der Arbeit nicht. Der von Ihnen vergrabene kleine Schatz hat sich an dembezeichneten Orte gefunden; man wird forschen, wer ichbin, man wird fragen, was ich mache, man wird nicht wissen, wovon ich lebe; was liegt daran? Das ist eine Angelegenheit zwischen Gott, Ihnen und mir.
Mercedes, sagte der Graf, ich mache Ihnen keinen Vorwurf, doch Sie haben das Opfer übertrieben, indem Sie das ganze von Herrn von Morcerf angehäufte Vermögen Fremden überließen, während die Hälfte von Rechtswegen Ihrer Sparsamkeit und Wachsamkeit zukam.