Ich sehe, was Sie mir vorschlagen wollen, doch ich kann es nicht annehmen, mein Sohn würde es mir verbieten.
Ich werde mich auch wohl hüten, etwas für Sie zu tun, was nicht dieBilligung des Herrn Albert von Morcerf hätte. Ich werde seine Ansichten erforschen und mich denselben unterwerfen. Doch wollen Sie, wenn er das, was ich tun will, annimmt, selbst nicht widerstreben?
Sie wissen, Edmond, daß ich kein denkendes Geschöpf mehrbin; ich habe keine Entschließung, wenn nicht die, mich nie mehr zu entschließen. Gott schüttelte mich so in seinen Stürmen, daß ich den Willen verloren habe. Ichbin wie ein Sperling in den Klauen des Adlers. Gott will nicht, daß ich sterbe, da ich lebe. Schickt er mir Hilfe, so wird er dies wollen, und ich werde sie annehmen.
Seien Sie auf Ihrer Hut, gnädige Frau, sagte Monte Christo, sobetet man Gott nicht an! Gott will, daß man ihn verstehe und sich seine Macht klar mache; deshalbhat er uns den freien Willen gegeben.
Unglücklicher! rief Mercedes, sprechen Sie nicht so zu mir. Wenn ich glaubte, Gott habe mir den freien Willen gegeben, wasbliebe mir, um mich vor Verzweiflung zu retten?
Monte Christo erbleichte leicht und neigte das Haupt, niedergebeugt durch die Heftigkeit dieses Schmerzes.
Wollen Sie mir nicht sagen: Auf Wiedersehen? sprach er, ihr die Hand reichend.
Oh ja, ich sage Ihnen Lebewohl auf Wiedersehen undbeweise damit, daß ich noch hoffe, antwortete Mercedes, feierlich auf den Himmel deutend, und nachdem sie die Handberührt, stürzte sie nach der Treppe und verschwand aus seinen Augen.
Monte Christo verließ langsam das Haus und schlug den Weg nach dem Hafen ein.
Doch Mercedes sah nicht, wie er sich entfernte, obgleich sie in dein kleinen Zimmer von Dantes' Vater am Fenster stand. Ihre Augen suchten in der Ferne das Schiff, das ihren Sohn nach dem weiten Meere forttrug, wenn auch ihre Stimme gleichsam unwillkürlich murmelte: Edmond! Edmond! Edmond!
Die Vergangenheit.
Der Graf ging mit wundem Herzen aus dem Hause, wo er Mercedes zurückließ, um sie aller Wahrscheinlichkeit nach nie mehr zu sehen.
Seit dem Tode des kleinen Eduard war eine gewaltige Veränderung in Monte Christo vorgegangen. Auf dem Gipfel seiner Rache angelangt, zu dem er auf einem steilen und gekrümmten Pfade aufgestiegen war, hatte er auf der anderen Seite desBerges den Abgrund des Zweifels erblickt, und das Gespräch, das soeben zwischen ihm und Mercedes stattgefunden, hatte sein Herz übermäßig erschüttert.
Ein Mann von dem mächtigen Geiste des Grafen konnte aber nicht lange in dieser Schwermut schweben, die erhabene Seelen tötet. Ichbetrachte die Vergangenheit in einem falschen Lichte, sagte erbei sich, ich kann mich nicht so sehr getäuscht haben. Wie! der Zweck, den ich mir vorgesetzt hatte, wäre ein unsinniger Zweck gewesen! Wie! Ich hätte seit zehn Jahren einen falschen Weg verfolgt! Wie! Eine Stunde hätte genügt, um dem Architekten zubeweisen, das Werk aller seiner Hoffnungen sei ein, wenn nicht unmögliches, doch gotteslästerliches Werk!
Ich will mich an diesen Gedanken nicht gewöhnen, er würde mich verrückt machen. Was meinem Urteile von heute fehlt, ist die rechte Würdigung der Vergangenheit, weil ich diese Vergangenheit vom andern Ende des Horizonts ansehe. In der Tat, je mehr man fortschreitet, desto mehr verschwindet die Vergangenheit nach dem Maßstabe der Entfernung, der Landschaft ähnlich, die man durchwandert. Esbegegnet mir, was den Leutenbegegnet, die sich im Traume verwundet haben; sie sehen und fühlen ihre Wunde und erinnern sich nicht, sie erhalten zu haben.
Vorwärts, du Wiedergeborener! Vorwärts, du unermeßlich Reicher! Vorwärts, du allmächtiger Seher! Fasse noch einmal die traurige Perspektive deines elenden, hungrigen Lebens ins Auge, durchwandere wieder die Wege, auf die dich das Verhängnis gestoßen und das Unglück geführt, wo die Verzweiflung dich gepackt hat! Es strahlen heute zu viel Diamanten, zu viel Gold, zu viel Glück auf den Gläsern des Spiegels, worin Monte Christo Dantesbetrachtet; verbirg diese Diamanten, vertilge diese Strahlen! Reicher, suche den Armen auf; Freier, suche den Gefangenen auf; Wiedererweckter, suche den Leichnam auf!
Während Monte Christo so mit sich sprach, folgte er der Rue de la Caisserie. Es war die Straße, durch die ihn vierundzwanzig Jahre vorher eine schweigsame, nächtliche Wache geführt hatte.
Er ging ans dem Kai hinabdurch die Rue Saint‑Laurent und wanderte nach der Consigne; das war der Punkt des Hafens, wo man ihn damals eingeschifft hatte. Ein zu Lustfahrten dienendes Schiff kam vorüber; Monte Christo rief dem Patron, der sogleich mit Eifer auf ihn zufuhr.
Das Wetter war herrlich und die Fahrt ein Fest. Am Horizont stieg die Sonne rot und flammend in die Wellen hinab. In der Ferne sah man, weiß und anmutig wie tauchende Möwen, die Fischerbarken, die sich nach den Martiguesbegaben, und die nach Korsika oder Spanien segelnden Schiffe hinziehen.
Trotz dieses schönen Himmels, trotz dieserBarken, trotz des goldenen Lichtes, das die Landschaft übergoß, erinnerte sich der Graf, in seinen Mantel gehüllt, hintereinander all der einzelnen Umstände dieser furchtbaren Fahrt. Das einzige Licht, dasbei den Kataloniernbrannte, der Anblick des Kastells If, der ihnbelehrte, wohin er geführt wurde; der Kampf mit den Gendarmen, als er sich ins Meer stürzen wollte; seine Verzweiflung, da er sichbesiegt sah, und die kalte Empfindung des Karabinerlaufes, der sich wie ein eiserner Ring an seine Schläfe drückte: dies alles trat lebhaft vor sein Gedächtnis.
Da fühlte er allmählich wieder die alte Galle sich regen, die einst Edmond Dantes' Herz überströmt hatte. Für ihn gabes von nun an keinen schönen Himmel, keine anmutigenBarken, kein glühendes Licht mehr; der Himmel umzog sich mit einem Trauerflor, und die Erscheinung des schwarzen Riesen, den man das Kastell If nennt, ließ ihnbeben, als obplötzlich das Gespenst eines Todfeindes vor ihn getreten wäre.
Man kam an Ort und Stelle. Unwillkürlich wich der Grafbis an das Ende derBarke zurück. Der Patron mochte immerhin mit seinem freundlichsten Tone sagen: Wir landen, mein Herr.
Monte Christo erinnerte sich, daß er auf derselben Stelle, auf demselben Felsen von den Wachen fortgeschleppt worden war, daß man ihn, mit der Spitze einesBajonettes in seine Seite stechend, diese jähe Treppe hinaufzusteigen genötigt hatte.
Der Weg war Dantes sehr lang vorgekommen; Monte Christo hatte ihn sehr kurz gefunden; jeder Ruderschlag ließ mit dem feuchten Meeresstaube eine Million Gedanken und Erinnerungen emporspringen.
Seit der Julirevolution gabes keine Gefangenen mehr im Kastell If, Obgleich er dies wußte, überzog die Stirn des Grafen, als er unter das Gewölbe trat und die schwarze Treppe hinabstieg, doch eine kalteBlässe und eisiger Schweiß. Er erkundigte sich, obnoch irgend ein Gefangenwärter aus der Zeit der Restauration vorhanden sei. Alle waren entlassen oder hatten andere Ämter erhalten. Der Hausmeister, der ihm das Kastell zeigte, war erst seit 1830 da.
Man führte ihn in seinen eigenen Kerker. Er sah wieder dasbleiche Licht durch das enge Luftloch dringen, er sah den Platz, wo einst seinBett stand, und erkannte hinter demBette an den neueren Steinen noch die vom Abbé Faria gemachte Öffnung.
Monte Christo fühlte, wie seineBeine wankten; er nahm einen hölzernen Schemel und setzte sich darauf.
Erzählt man auch noch andere Geschichten von dem Kastell, außer der von Mirabeaus Einkerkerung? fragte der Graf; gibt es irgend einebesondere Überlieferung über diese finsteren Kerker?
Ja, mein Herr, antwortete der Hausmeister, und gerade von diesem Kerker hat mir der Gefangenwärter Antoine eine Geschichte mitgeteilt.
Monte Christobebte. Der Gefangenwärter Antoine war sein Gefangenwärter gewesen. Er hatte seinen Namen und sein Gesichtbeinahe vergessen; doch jetzt sah er ihn wieder vor sich mit seinem dickenBarte, seinembraunen Wams und seinem Schlüsselbund, dessen Klirren er noch zu hören wähnte. Soll ich dem Herrn die Geschichte erzählen?