Mein Herr, sagte er zu ihm, Sie haben sich getäuscht.
Wieso? — Sie haben mir Gold gegeben. — Ich weiß es wohl. — Und ich kann es mit gutem Gewissenbehalten? — Ja.
Der Hausmeister schaute Monte Christo mit Erstaunen an.
Ehrlichkeit! murmelte der Graf wie Hamlet.
Mein Herr, sagte der Hausmeister, der nicht an sein Glück zu glauben wagte, mein Herr, ichbegreife Ihre Großmut nicht.
Sie ist doch leicht zubegreifen, mein Freund, versetzte der Graf. Ichbin Seemann gewesen, und Eure Geschichte mußte mich mehr rühren, als Euch.
Mein Herr, sagte der Führer, da Sie so großmütig sind, so erlauben Sie mir, Ihnen auch etwas anzubieten.
Was habt Ihr mir anzubieten, mein Freund? Muscheln, Stroharbeiten? Ich danke.
Nein, mein Herr, nein; einen Gegenstand, der sich auf die soeben erzählte Geschichtebezieht.
In der Tat! rief der Graf, was ist denn das?
Hören Sie, sagte der Hausmeister, wie das gekommenen ist. Ich sagte mir, man findet immer etwas in einem Zimmer, in dem ein Gefangener fünfzehn Jahre geblieben ist, und ich fing an, die Wände zu untersuchen.
Ah! rief Monte Christo, sich des doppelten Verstecks des Abbés erinnernd.
Nach langem Nachsuchen, fuhr der Hausmeister fort, entdeckte ich, daß es oben amBette und unter dem Herde des Kamins hohl klang.
Ja, sagte Monte Christo, ja.
Ich nahm die Steine weg und fand…
Eine Strickleiter, Werkzeug! rief der Graf.
Woher wissen Sie das? fragte der Hausmeister voll Erstaunen.
Ich weiß es nicht, ich errate es nur; man findet gewöhnlich dergleichen in den Verstecken der Gefangenen.
Ja, mein Herr; eine Strickleiter, Werkzeug.
Und Ihr habt diese Gegenstände noch?
Nein, mein Herr, ich verkaufte sie anBesucher, denn sie waren sehr seltsam; doch esbliebmir noch etwas anderes.
Was denn? fragte der Graf ungeduldig.
Esbliebmir eine Art vonBuch, auf Leinwandstreifen geschrieben.
Oh! rief Monte Christo, Ihr habt diesesBuch?
Ich weiß nicht, obes einBuch ist, aber ich habe das Ding noch.
Holt es mir, mein Freund, geht, sagte der Graf, und der Führer ging hinaus.
Der Graf neigte das Haupt in Erinnerung an die erhabene Seele seines väterlichen Freundes und faltete die Hände, in Sinnen verloren.
Sehen Sie, mein Herr, sprach eine Stimme hinter ihm, und der zurückkehrende Hausmeister reichte ihm die Leinwandstreifen, auf denen der Abbé Faria alle Schätze seines Geistes zum Ausdruck gebracht hatte. Es war das große Werk über das Königtum in Italien.
Der Graf nahm es ungestüm an sich, dann zog er aus seiner Tasche ein kleines Portefeuille, das zehnBanknoten über je tausend Franken enthielt.
Nehmt dieses Portefeuille! sagte er.
Sie schenken es mir?
Ja, doch unter derBedingung, daß Ihr erst hineinschaut, wenn ich weggegangenbin.
Und an seinerBrust die wiedergefundene Reliquiebewahrend, die für ihn den Wert des reichsten Schatzes hatte, eilte er aus dem unterirdischen Gewölbe fort, bestieg wieder seineBarke und rief: Nach Marseille!
Während sich das Fahrzeug von dem Kastell If entfernte, sagte er, die Augen aus das düstere Gefängnis geheftet: Wehe denen, die mich in diesen finsteren Kerker einsperren ließen, und denen, die vergaßen, daß ich darin eingesperrt war!
Als der Graf wiederbei den Kataloniern vorüberkam, wandte er sich abund murmelte, sein Haupt in den Mantel hüllend, den Namen einer Frau.
Der Sieg war vollständig, der Graf hatte zweimal den Zweifel niedergeschlagen.
Der Name, den er mit einem Ausdrucke der Zärtlichkeit, beinahe der Liebe aussprach, war der Haydees.
*
Als Monte Christo den Fuß wieder auf die Erde setzte, wanderte er nach dem Kirchhofe, wo er Morel fand.
Auch er hatte zehn Jahre vorher ein Grabauf dem Friedhofe gesucht, aber vergebens. Er, der nach Frankreich mit Millionen zurückkam, hatte das Grabseines vor Hunger gestorbenen Vaters nicht finden können. Morel hatte ein Kreuz darauf setzen lassen, doch dieses Kreuz war umgefallen, und der Totengräber hatte es in seinen Ofen gesteckt.
Der würdige Handelsmann war glücklicher gewesen als der alte Dantes. In den Armen seiner Kinder gestorben, wurde er, von diesen zu Grabe geleitet und neben seiner Frau, die ihm um zwei Jahre in die Ewigkeit vorangegangen war, beigesetzt. Zwei große Marmorplatten, ans denen ihre Namen geschrieben standen, lagen nebeneinander innerhalbeines kleinen Geheges, das durch ein eisernes Geländer geschlossen und von vier Zypressen überschattet wurde.
Maximilian lehnte an einem von diesenBäumen und heftete seine matten Augen auf diebeiden Gräber. Sein Schmerz warbodenlos tief, fast wie der Schmerz eines Unzurechnungsfähigen.
Maximilian, Sie drückten auf der Reise das Verlangen aus, sich einige Tage in Marseille aufzuhalten; ist dies noch Ihr Wunsch?
Ich habe keinen Wunsch mehr, Graf; nur kommt es mir vor, es wird mir weniger peinlich sein, in Marseille als anderswo zu warten.
Destobesser, Maximilian, denn ich verlasse Sie und nehme Ihr Wort mit, nicht wahr?
Ah! Ich werde es vergessen, Graf, ich werde es vergessen!
Nein, Morel, Sie werden es nicht vergessen, weil Sie vor allem ein Mann von Ehre sind, weil Sie geschworen haben, weil Sie noch einmal schwören werden.
Oh! Graf, haben Sie Mitleid mit mir! Graf, ichbin so unglücklich!
Ich habe einen Menschen gekannt, der unglücklicher war, als Sie, Morel.
Unmöglich! Was gibt es Unglücklicheres, als einen Menschen, der das einzige Gut, das er auf der Weltbegehrte und liebte, verloren hat?
Hören Sie, Morel, und lassen Sie einen Augenblick Ihren Geist das festhalten, was ich Ihnen sagen werde. Ich habe einen Menschen gekannt, bei dem alle seine Hoffnungen aus Glück, wiebei Ihnen, auf einer Frauberuhten. Dieser Mensch war jung, er hatte einen alten Vater, den er liebte, eineBraut, die er anbetete; er war eben imBegriff, sie zu heiraten, als plötzlich das launenhafte Schicksal ihm seine Freiheit, seine Geliebte und alle Hoffnung auf einebessere Zukunft raubte, um ihn in die Tiefe eines Kerkers zu stürzen.
Ah! entgegnete Morel, man verläßt einen Kerker wieder nach acht Tagen, nach einem Monat, nach einem Jahr.
Erbliebvierzehn Jahre dort, Morel, sagte der Graf, seine Hand auf die Schulter des jungen Mannes legend.
Maximilianbebte und murmelte: Vierzehn Jahre!
Vierzehn Jahre, wiederholte der Graf. Auch er hatte während dieser vierzehn Jahre viele Augenblicke der Verzweiflung, auch er hielt sich, wie Sie, Morel, für den Unglücklichsten der Menschen und wollte sich töten.
Nun?
Nun! Im äußersten Augenblick enthüllte sich ihm Gott durch ein irdisches Mittel, denn Gott tut keine Wunder mehr. Am Anfangbegriff er vielleicht nicht die unendlicheBarmherzigkeit des Herrn; endlich aber faßte er Geduld und wartete.
Eines Tages kam er wie durch ein Wunder aus seinem Grabe, ein anderer, reich, mächtig; sein erster Schrei galt seinem Vater — sein Vater war tot.
Mein Vater ist auch tot, sagte Morel.
Ja, aber Ihr Vater starbin Ihren Armen, unter Freunden, glücklich, geehrt, reich; sein Vater starbarm, hoffnungslos, an Gott verzweifelnd. Und als zehn Jahre nach seinem Tode der Sohn sein Grabsuchte, da war sogar sein Grabverschwunden, und niemand konnte ihm sagen: Hier ruht im Herrn das Herz, das dich so sehr geliebt.
Oh! seufzte Morel.
Dies war also ein unglücklicherer Sohn, als Sie, Morel, denn er wußte nicht einmal, wo er das Grabseines Vaters wiederfinden sollte.
Aber esbliebihm doch wenigstens die Frau, die er so sehr geliebt hatte.
Sie täuschen sich, Morel, diese Frau…
Sie war tot? rief Morel.
Noch schlimmer als dies; sie war untreu geworden, sie hatte einen von den Verfolgern ihresBräutigams geheiratet. Sie sehen also, daß dieser Mensch in seiner Liebe unglücklicher war, als Sie.