Dannbesaß er den Mut, sich fürs erste hiermit genügen zu lassen; er erinnerte sich, gehört zu haben, daß unglückliche Schiffbrüchige, die man vor Hunger entkräftet gefunden hatte, daran gestorben waren, daß sie zu gierig Speisen verschlangen. Er setzte daher dasBrot, das erbereits zum Munde führte, auf den Tisch und legte sich wieder nieder. Bald fühlte er, daß der Tag in sein Gehirn zurückkehrte; er konnte wieder denken und seine Gedanken ordnen.
Dann sagte er zu sich selbst: Man muß die Probe machen, aber ohne jemand zu gefährden. Ist der, dessen Geräusch ich vernehme, ein gewöhnlicher Arbeiter, sobrauche ich nur an die Mauer zu schlagen, und er wird sogleich seine Tätigkeit einstellen und zu erraten suchen, wer der Schlagende ist, und in welcher Absicht er schlägt. Da aber seine Arbeitbefohlen ist, so wird er siebald wieder fortsetzen. Ist er jedoch ein Gefangener, so wird ihn der Lärm erschrecken. Er wirdbefürchten, entdeckt zu werden, seine Arbeit aufgeben und erst am Abend, wenn er alles schlafend glaubt, von neuembeginnen.
Sogleich erhobsich Edmond zum zweitenmal. Diesmal wankten seineBeine nicht mehr, und seine Augen waren nicht mehr geblendet. Er ging in eine Ecke seines Gefängnisses, machte einen durch die Feuchtigkeit unterhöhlten Stein los und schlug gerade an der Stelle, wo das Geräusch am deutlichsten war, an die Mauer.
Er klopfte dreimal. — Schonbeim ersten Schlage hörte das Geräusch wie durch einen Zauber auf. Edmond horchte mit aller Anstrengung. Eine Stunde verging, zwei Stunden vergingen, kein neues Geräusch ließ sich vernehmen. Voll Hoffnung aß Edmond einigeBissen von seinemBrot, trank ein paar Schluck Wasser, undbei der vorzüglichen Körperbeschaffenheit, mit der ihn die Naturbegabt halte, befand er sichbeinahe wieder wie zuvor.
Der Tag verging, die Stille dauerte fort. Die Nacht kam, ohne daß das Geräusch wiederbegonnen hatte.
Es ist ein Gefangener, sagte Edmond mit unbeschreiblicher Freude zu sich selbst. Von dieser Zeit an erhellte sich sein Geist, und die Lust zum Leben erwachte mit voller Kraft. Die Nacht ging vorüber, ohne daß sich das geringste vernehmen ließ. Edmond schloß aber in dieser Nacht die Augen nicht.
Der Tag erschien, und der Gefangenwärterbrachte die gewöhnlichen Lebensmittel. Edmond hatte die vorigenbereits verschlungen; er verschlang auch diese, horchte unablässig auf das Geräusch, das nicht wieder kam, fürchtete, es könnte für immer aufgehört haben, legte fünfbis sechs Meilen in seinem Kerker zurück, rüttelte zwei Stunden lang an den eisernen Stangen seines Luftloches und gabseinen Gliedern dadurch die längst entbehrte Geschmeidigkeit und Stärke wieder. In den Zwischenräumen dieser fieberhaften Tätigkeit horchte er, obdas Geräusch nicht wiederkehrte, und er ärgerte sich über die Klugheit des Gefangenen, der nicht vermuten konnte, daß er in seinemBefreiungswerke von einem andern Gefangenen gestört worden sei, der wenigstens ebenso große Eile hatte, frei zu werden, wie er selbst.
Es vergingen drei Tage, zweiundsiebzig tödliche Stunden, Minute um Minute abgezählt.
Endlich, eines Abends, als der Wärter seinen letztenBesuch gemacht hatte, als Dantes zum hundertstenmal sein Ohr an die Wand hielt, schien es ihm, als obeine unmerkliche Erschütterung dumpf in seinem Kopfe, den er an die schweigenden Steine gelegt hatte, wiederklinge.
Er wich zurück, um sein erregtes Gehirn ins Gleichgewicht zubringen. Dann machte er einige Schritte im Zimmer und hielt nun erst wieder sein Ohr an denselben Ort. Es unterlag keinem Zweifel mehr, es ging etwas auf der anderen Seite vor. Der Gefangene hatte die Gefahr erkannt und, um seine Arbeit sicherer fortzusetzen, statt eines Meißels ein Hebeisen genommen.
Durch diese Entdeckung ermutigt, beschloß Edmond, dem unbekannten Arbeiter zu Hilfe zu kommen. Er fing damit an, daß er seinBett wegrückte, hinter dem ihm dasBefreiungswerk ausgeführt zu werden schien; dann suchte er einen Gegenstand, mit dem er die Wand aufritzen, den feuchten Mörtel herausbrechen und einen Stein losmachen könnte. — Nichts zeigte sich seinem Auge. Erbesaß weder ein Messer, noch irgend ein anderes schneidendes Instrument. Eisen war nur an seinen Fensterstangen vorhanden, und er hatte sich oft genug überzeugt, daß sie zu fest eingelötet waren, um sich lösen zu lassen.
Das ganze Gerät seines Zimmersbestand aus einemBett, einem Stuhle, einem Tische, einem Eimer und einem Kruge. An demBett waren wohl eiserneBänder, aber sie waren durch Schrauben am Holzbefestigt. Man hätte einen Schraubenzieher haben müssen, um sie loszumachen. An dem Tische und dem Stuhle war nichts. Am Eimer fehlte der Henkel. Es gabfür Dantes nur noch ein Mitteclass="underline" seinen Krug zu zerbrechen und mit einem Scherben sich an die Arbeit zu machen. Er ließ seinen Krug auf denBoden fallen, daß er in Stücke zerbrach. Dantes wählte einige spitzige Scherben, verbarg sie in seinem Strohsack und ließ die andern auf der Erde liegen. Das Zerbrechen des Kruges war eine so nahe liegende Möglichkeit, daß es keinen Argwohn erregen konnte.
Edmond hatte die ganze Nacht zum Arbeiten; doch in der Dunkelheit ging es schlecht vorwärts, denn er mußte tastend arbeiten, und er fühltebald, daß sich sein schwaches Werkzeug an dem Sandstein abstumpfte, der härter war, als das Instrument. Er stieß also seinBett wieder zurück und wartete den Tag ab. Mit der Hoffnung war auch die Geduld zurückgekehrt. Die ganze Nacht hindurch hörte und horchte er auf den unbekannten Gräber, der sein unterirdisches Werk fortsetzte.
Der Tag erschien, und der Wärter trat ein. Dantes erzählte ihm, er habe am Abend zuvor aus dem Kruge getrunken; er sei seinen Händen entschlüpft, auf denBoden gefallen und zerbrochen. Der Wärter gingbrummend fort, um einen neuen zu holen, ohne daß er sich nur die Mühe gab, die Stücke des alten zusammenzulesen und mitzunehmen.
Dantes hörte mit unsäglicher Freude das Klirren des Schlosses, dessen Zuschließen ihm früher das Herz zusammenschnürte. Er vernahm, wie die Schritte sich nach und nach entfernten. Sobald das Geräusch völlig erloschen war, sprang er nach seinem Lager, das er von seiner Stelle rückte, undbeim Scheine des schwachen Tageslichts, das in seinen Kerker drang, konnte er sehen, welche nutzlose Arbeit er in der Nacht vorher getan hatte, er hatte nämlich den Stein selbst angegriffen statt den Kalk ringsum. Dieser Kalk war durch die Feuchtigkeit zerreibbar geworden. Dantes sah mit freudigem Herzklopfen, daß er sich inBruchstücken ablöste, und nach Verlauf einer halben Stunde hatte er ungefähr eine Handvoll losgemacht. Ein Mathematiker hätteberechnen können, daß man mittels zweijähriger Arbeit, vorausgesetzt, man stieß auf keinen Felsen, sich auf diese Weise einen Gang von zwei Quadratfuß und von zwanzig Fuß Tiefe zu graben im stande gewesen wäre.
Der Gefangene machte es sich nun zum Vorwurf, daß er die vielen abgelaufenen Stunden, die er in der Hoffnung, im Gebete und in der Verzweiflung verloren, nicht zu dieser Arbeit verwendet hatte. In den sechs Jahren, die er ungefähr in diesem Kerker eingeschlossen war… welche Arbeit hätte er nicht, so langsam sie auch vor sich ging, vollendet! — Dieser Gedanke verlieh ihm neuen Eifer.
In drei Tagen gelang es ihm mit unerhörter Vorsicht, allen Mörtel wegzuschaffen und den Steinbloßzulegen. Die Wand war vonBruchsteinen gemacht, in die man, um ihr mehr Festigkeit zu geben, von Zeit zu Zeit einenbehauenen Stein eingefügt hatte. Er hatte gerade an einem von denbehauenen Steinen gearbeitet, und es handelte sich nun darum, ihn in seiner Lage zu erschüttern. Dantes versuchte es mit seinen Nägeln, aber seine Nägel waren hierfür ungenügend. Die in die Zwischenräume geschobenen Scherben zerbrachen aber, sobald sich Dantes ihrer als Hebelbedienen wollte. Nach einer Stunde fruchtloser Versuche erhober sich mit Angstschweiß auf der Stirn.