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Sollte er schon am Anfange seiner Arbeit gehemmt werden, und mußte er träge und unnütz warten, bis sein Nachbar, der ebenfalls müde werden konnte, alles getan hatte?

Der Gefangenwärterbrachte Dantes' Suppe jeden Tag in einerblechernen Kasserolle. Diese Kasserolle enthielt seine Suppe und die eines zweiten Gefangenen, denn Dantes hattebemerkt, daß dieselbe entweder ganz voll oder halbleer war, je nachdem der Schließer die Verteilung der Lebensmittelbei ihm oder seinem Gefährten anfing. Die Kasserolle hatte einen eisernen Stiel. Nach diesem Stiele trachtete Dantes, er hätte ihn, wenn es sein mußte, mit zehn Jahren seines Lebensbezahlt. Der Gefangenwärter goß den Inhalt der Kasserolle auf Dantes' Teller.

Am Abend stellte Dantes seinen Teller halbwegs zwischen Tür und Tisch auf denBoden. Als der Wärter eintrat, setzte er den Fuß auf den Teller und zerbrach ihn in tausend Stücke. Diesmal war nichts gegen Dantes zu sagen. Er hatte unrecht, seinen Teller auf demBoden zu lassen; aber von dem Wärter war es unvorsichtig gewesen, nicht vor seine Füße zu schauen. Der letzterebrummte, dann schaute er sich nach einem Gegenstand um, in den er die Suppe gießen könnte; Dantes' Mobiliarbeschränkte sich auf diesen einzigen Teller, und es gabkeine Wahl.

Lassen Sie die Kasserolle hier, sagte Dantes, Sie können sie wieder mitnehmen, wenn Sie morgen mein Frühstückbringen.

Dieser Rat schmeichelte der Trägheit des Gefangenwärters. Er hatte nicht nötig, hinaufzusteigen, wieder herabzusteigen und abermals hinaufzusteigen. Er ließ die Kasserolle zurück. Dantesbebte vor Freude. Diesmal verschlang er rasch seine Suppe und das Fleisch, das darin lag. Nachdem er eine Stunde gewartet hatte, um sicher zu sein, der Gefangenwärter würde nicht andern Sinnes werden, rückte er seinBett auf die Seite, nahm seine Kasserolle, schobden Stiel zwischen denbloßgelegten Stein und diebenachbartenBruchsteine und fing an, sich desselben als Hebel zubedienen. Nach Verlauf einer Stunde war wirklich der Stein aus der Mauer gezogen, in der er eine Aushöhlung von mehr als anderthalbFuß im Durchmesser ließ.

Dantes sammelte sorgfältig allen Kalk, trug ihn in die Ecken seines Gefängnisses, kratzte die graue Erde mit einem von denBruchstücken seines Kruges auf undbedeckte den Kalk damit.

Da er diese Nachtbenutzen wollte, in der ihm der Zufall, oder vielmehr sein erfinderischer Geist ein so kostbares Werkzeug in die Hände gab, so fuhr er mit aller Anstrengung zu graben fort. Bei Tagesanbruch setzte er den Stein wieder in sein Loch, stieß seinBett an die Wand und legte sich nieder.

Sein Frühstückbestand aus einem StückBrot. Der Gefangenwärter trat ein und legte dasBrot auf den Tisch.

Wie, Siebringen mir keinen andern Teller? sagte Dantes.

Nein, sagte der Schließer, bei Ihnen wird alles zerbrochen, Sie haben den Krug zertrümmert und sind schuld, daß ich Ihren Teller in Stücke trat. Wenn alle Gefangenen so viel Schaden anrichten würden, könnte es die Regierung nicht mehrbezahlen. Siebehalten die Kasserolle hier undbekommen die Suppe hinein; dann werden Sie wohl das Geschirr nicht mehr zerbrechen.

Dantes schlug die Augen zum Himmel auf und faltete seine Hände auf demBette. Dieses ihm überlassene Stück Eisen erzeugte in seinem Herzen ein Gefühl der Dankbarkeit, wie es in seinem früheren Leben die größten Güter, die ihm zugeflossen waren, niemals erzeugt hatten. Nur war es ihm nicht entgangen, daß, seitdem er zu arbeitenbegonnen, der andere Gefangene nicht mehr arbeitete. Ganz gleich, das war kein Grund, von dem Unternehmen abzustehen. Kam sein Nachbar nicht zu ihm, so ging er zum Nachbar. Er arbeitete den ganzen Tag ohne Unterlaß. Am Abend hatte er mit Hilfe seines neuen Werkzeuges mehr als zehn Hände voll Trümmer vonBruchsteinen und Mörtel aus der Mauer gezogen.

Als die Stunde desBesuches kam, richtete er, so gut er konnte, den gebogenen Stiel der Kasserolle wieder gerade und stellte das Gefäß an seinen gewöhnlichen Platz. Der Schließer schüttete die vorgeschriebene Ration hinein; dann entfernte er sich wieder. Diesmal wollte Dantes sich vergewissern, obsein Nachbar wirklich seine Arbeit eingestellt hätte. Er horchte. Allesbliebstill, wie während der drei Tage, wo die Arbeiten unterbrochen worden waren. Dantes seufzte. Sein Nachbar mißtraute ihm offenbar. Er ließ sich jedoch nicht entmutigen und setzte seine Arbeit die ganze Nacht fort; doch nach zweibis drei Stunden stieß er auf ein Hindernis. Das Eisen faßte nicht mehr, sondern glitt aus; Dantesberührte das Hemmnis mit seinen Händen undbemerkte, daß es einBalken war, der das mühsam ausgegrabene Loch gänzlich versperrte, so daß er darüber oder darunter graben mußte. An ein solches Hindernis hatte der unglückliche junge Mann nicht gedacht.

Oh! mein Gott, mein Gott! Ich habe dich doch so sehr gebeten, daß ich hoffte, du würdest mich erhören! Mein Gott, der du mir die Freiheit des Lebens, der du mir die Ruhe des Todes genommen, der du mich zum Dasein zurückgerufen hast, mein Gott! habe Mitleid mit mir und laß mich nicht in Verzweiflung sterben! rief Dantes erregt aus.

Wer spricht zugleich von Gott und von Verzweiflung? ließ sich eine Stimme vernehmen, die unter der Erde hervorzukommen schien und wie ein Grabeston zu dem jungen Mann drang.

Edmond fühlte, wie sich die Haare auf seinem Haupte sträubten, und wich auf den Knien zurück.

Ah! murmelte er, ich höre einen Menschen sprechen.

Seit vier oder fünf Jahren hatte Edmond nur die Stimme seines Kerkermeisters gehört, und für den Gefangenen ist der Kerkermeister kein Mensch. Er ist eine lebende Tür, ein Riegel von Fleisch.

Im Namen des Himmels! rief Dantes, Sie, der Sie gesprochen haben, sprechen Sie weiter, obgleich Ihre Stimme mich erschreckt hat. Wer sind Sie?

Wer sind Sie selbst? fragte die Stimme.

Ein unglücklicher Gefangener, versetzte Dantes.

Ihr Name? — Edmond Dantes. — Wie lange sind Sie hier? — Seit dem 28. Februar 1815. — Ihr Verbrechen? — Ichbin unschuldig. — Wessen klagt man Sie an? — Für die Rückkehr des Kaisers konspiriert zu haben.

Wie? Für die Rückkehr des Kaisers? Der Kaiser ist also nicht mehr auf dem Throne?

Er hat in Fontainebleu im Jahre 1814 entsagt und ist auf die Insel Elba verbannt worden. Aber wie lange sind Sie denn hier, daß Sie dies nicht wissen?

Seit 1811.

Dantesbebte; dieser Mann war vier Jahre länger im Gefängnis, als er.

Es ist gut, graben Sie nicht mehr! versetzte die Stimme schnell sprechend. Sagen Sie mir nur, auf welcher Höhe sich die Aushöhlungbefindet, die Sie gemacht haben.

DemBoden gleich. — Wie ist sie verborgen? — Hinter meinemBette. — Wohin geht Ihr Zimmer? — Nach einem Gange, der nach dem Hofe mündet. — Ach! murmelte die Stimme.

Oh! mein Gott, was gibt es denn? rief Dantes.

Ich habe mich getäuscht, die Unvollkommenheit meiner Zeichnungen hat michbetrogen, der Mangel eines Kompasses hat mich zu Grunde gerichtet; eine Linie des Irrtums auf meinem Planebedeutet fünfzehn Fuß in der Wirklichkeit, und ich hielt die Mauer, die Sie durchhöhlen, für die der Zitadelle.

Aber dann wären Sie an das Meer gekommen!

Das wollte ich, ich warf mich in die See, ich erreichte schwimmend eine von den Inseln, die das Kastell If umgeben, oder auch die Küste, und ich war gerettet.

Hätten Sie so weit schwimmen können?

Gott würde mir die Kraft verliehen haben; doch nun ist alles verloren. — Alles?

Ja. Stopfen Sie Ihr Loch wieder vorsichtig zu, arbeiten Sie nicht mehr, bekümmern Sie sich um nichts mehr, und erwarten Sie Kunde von mir.

Sagen Sie mir doch wenigstens, wer Sie sind. Ichbin… ichbin Nummer 27.

Sie mißtrauen mir also? fragte Dantes.

Edmond glaubte, einbitteres Lachen zu hören. Oh! ichbin ein guter Christ! rief er, denn er fühlte instinktartig, daß der andere ihn verlassen wollte; ich schwöre Ihnen, daß ich mich eher töten lasse, als daß Ihre Henker, die zugleich die meinen sind, durch mich einen Schatten der Wahrheit zu sehenbekommen. Doch im Namen des Himmels, berauben Sie mich nicht Ihrer Gegenwart, berauben Sie mich nicht Ihrer Stimme, oder ich schwöre Ihnen, denn meine Kräfte gehen zu Ende, ich zerschmettere mir den Schädel an der Wand, und Sie haben sich meinen Tod vorzuwerfen.