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Wie alt sind Sie? Ihre Stimme scheint die eines jungen Mannes zu sein.

Ich weiß mein Alter nicht, denn ich habe die Zeit, seitdem ich hierbin, nicht messen können. Ich weiß nur, daß ich neunzehn Jahre alt war, als ich am 28. Februar 1815 verhaftet wurde.

Noch nicht ganz fünfundzwanzig Jahre; in diesem Alter ist man noch kein Verräter, murmelte die Stimme.

Oh! nein! Ich schwöre es Ihnen, wiederholte Dantes. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt und wiederhole es, ich lasse mich eher in Stücke zerhauen, als daß ich Sie verrate.

Sie haben wohl daran getan, mit mir zu sprechen, Sie haben wohl daran getan, mich zubitten; denn ich war imBegriff, einen andern Plan zu entwerfen und mich von Ihnen zu entfernen. Aber Ihr Alterberuhigt mich; ich werde wieder zu Ihnen kommen, warten Sie auf mich!

Wann?

Ich muß alles erwägen und werde Ihnen ein Zeichen geben.

Doch Sie verlassen mich nicht? Ich muß nicht alleinbleiben? Sie kommen zu mir, oder Sie erlauben mir, zu Ihnen zu gehen. Wir fliehen miteinander, und wenn wir nicht fliehen können, so sprechen wir, Sie von Menschen, die Sie lieben, und ich von Menschen, die ich liebe. Sie müssen irgend jemand lieben?

Ichbin allein auf der Welt.

Dann lieben Sie mich! Sind Sie jung, so werde ich Ihr Kamerad; sind Sie alt, sobin ich Ihr Sohn. Ich habe einen Vater, der siebzig Jahre alt sein muß, wenn er noch lebt. Ich liebte nur ihn und ein junges Mädchen, namens Mercedes. Mein Vater hat mich nicht vergessen, dessenbin ich sicher; aber sie, Gott weiß, obsie noch an mich denkt. Ich werde Sie lieben, wie ich meinen Vater liebte.

Es ist gut, erwiderte der Gefangene, morgen!

Diese Worte wurden mit einem Tone ausgesprochen, der Dantes überzeugte. Mehr verlangte er nicht; er stand auf, traf dieselben Vorsichtsmaßregeln inBezug auf die Mauertrümmer, wie er sie früher getroffen hatte, und stieß seinBett wieder an die Wand.

Von diesem Augenblick an überließ sich Dantes ganz und gar seinem Glück. Er hoffte sicher, nicht mehr allein zu sein, er hoffte sogar, vielleicht frei zu werden. Im schlimmsten Falle hatte er, wenn er Gefangenerblieb, einen Gefährten. Geteilte Gefangenschaft aber ist nur halbe Gefangenschaft. Den ganzen Tag ging Dantes freudigen Herzens in seinem Kerker auf und ab. Er setzte sich auf seinBett und preßte seineBrust mit der Hand. Bei dem geringsten Geräusch, das er im Gang vernahm, sprang er nach der Tür. Ein paarmal stieg ihm die Furcht zu Kopf, man könnte ihn von diesem Manne trennen, den er nicht kannte und doch schon wie einen Freund liebte. Dann war er entschlossen; in dem Augenblick, wo der Kerkermeister seinBett wegrückte und sichbückte, um die Öffnung zu untersuchen, wollte er ihm mit demBoden seines Kruges den Schädel einschlagen. Man verurteilte ihn dann zum Tode, das wußte er wohl; mußte er aber nicht vor Zorn und Verzweiflung in dem Augenblick sterben, wo ihn dieses wunderbare Geräusch dem Leben zurückgegeben hatte?

Am Abend kam der Wärter. Dantes lag auf seinemBette; es kam ihm vor, alsbewachte er so die unvollendete Öffnungbesser. Ohne Zweifelbetrachtete er den ungelegenenBesuch mit sonderbaren Augen, denn dieser sagte: Wie, sollten Sie wieder ein Narr werden?

Dantes antwortete nicht, er fürchtete, die Aufregung seiner Stimme könnte ihn verraten, und der Mann entfernte sich, den Kopf schüttelnd.

Als die Nacht eingetreten war, glaubte Dantes, sein Nachbar würde die Stille und Dunkelheitbenutzen, um das Gespräch wieder mit ihm anzuknüpfen. Aber er täuschte sich, die Nacht verlief, ohne daß irgend ein Geräusch seiner fieberhaften Erwartung entsprach. Am andern Tage aber, nach dem Morgenbesuche und nachdem er seinBett von der Wand entfernt hatte, hörte er drei Schläge in gleichen Zwischenräumen. Er stürzte auf die Knie.

Sind Sie es? sprach er; ichbin hier.

Ist Ihr Kerkermeister fort? fragte die Stimme.

Ja, antwortete Dantes, und er wird erst am Abend wiederkommen. Wir haben zehn Stunden für uns.

Ich kann also ans Werk gehen? sprach die Stimme.

Oh, ja, ja, ohne Zögern, auf der Stelle, ichbitte Sie!

Sogleich schien der Teil der Erde, auf den Dantes, halbin der Öffnung verborgen, seine Hände stützte, unter ihm zu weichen. Er warf sich zurück, während eine Masse von Erde und abgelösten Steinen in ein Loch stürzte, das sich unter der von ihmbewerkstelligten Öffnung ausgehöhlt hatte. Dann sah er im Hintergrunde dieses finstern Lochs, dessen Tiefe er nicht ermessen konnte, einen Kopf, Schultern und endlich einen ganzen Menschen erscheinen, der ziemlichbehend aus der Höhlung hervorkam.

Ein gelehrter Italiener

Dantes schloß den neuen, so lange und so ungeduldig erwarteten Freund in seine Arme und zog ihn zu seinem Fenster hin, damit ihn das wenige Licht, das in seinen Kerker drang, völligbeleuchte.

Es war ein Mann von mittlerem Wuchse, mit Haaren, mehr durch Leiden, als vom Alter gebleicht, mit durchdringenden Augen unter dichten, grau werdendenBrauen und einem noch schwarzenBarte, der auf seineBrust herabfiel. Die Magerkeit seines von tiefen Runzeln ausgehöhlten Gesichtes, die kühne Linie seiner charakteristischen Züge verkündeten einen Mann, der mehr gewohnt war, seine moralischen Fähigkeiten, als seine körperlichen Kräfte zu üben. Die Stirn des Unbekannten war mit Schweißbedeckt.

Was seine Kleidungbetrifft, so ließ sich ihre ursprüngliche Form nicht unterscheiden, denn sie zerfiel in Lumpen. Er schien wenigstens fünfundsechzig Jahre alt zu sein, obgleich seine kraftvollenBewegungen darauf hindeuteten, daß er weniger Jahre zähle, als sein Äußeres infolge der langen Gefangenschaft vermuten ließ.

Die enthusiastischeBegrüßung des jungen Mannes tat ihm offenbar wohl. Seine vereiste Seele schien sich einen Augenblickbei derBerührung mit dieser glühenden Seele zu erwärmen und zu schmelzen. Er dankte Dantes aufrichtig für seine Herzlichkeit, obgleich seine Enttäuschung groß gewesen war, als er einen zweiten Kerker fand, wo er die Freiheit zu finden gehofft hatte.

Wir wollen zuerst sehen, sagte er, obwir ein Mittel haben, vor den Augen Ihres Wärters die Spuren meines Durchbruches zu verbergen. Unsere ganze zukünftige Ruhe hängt davon ab, daß nichts von dem, was vorgefallen ist, bekannt wird. Dannbückte er sich nach der Öffnung, nahm den Stein, hobihn trotz seines Gewichtes leicht auf und schobihn in das Loch. Dieser Stein wurde sehr nachlässig ausgebrochen, sagte er, den Kopf schüttelnd; Sie haben also keine Werkzeuge?

Haben Sie denn welche? fragte Edmond erstaunt.

Ich habe mir einige gemacht; außer einer Feilebesitze ich alles, was manbraucht, Meißel, Zange, Hebel.

Oh, ich wäre sehrbegierig, diese Erzeugnisse Ihrer Geduld und Ihrer Geschicklichkeit zu sehen, sagte Dantes.

Sehen Sie, hier ist vor allem ein Meißel.

Und er zeigte ihm eine starke, scharfe Klinge mit einem Hefte ausBuchenholz.

Wovon haben Sie das gemacht?

Aus einem von denBändern meinesBettes. Mit diesem Werkzeug habe ich mir den ganzen Weg ausgehöhlt, der michbis hierher führte, ungefähr fünfzig Fuß.

Fünfzig Fuß! rief Dantes erschreckt.

Reden Sie leiser, junger Mann, reden Sie leiser; es kommt oft vor, daß man an den Türen der Gefangenen horcht.

Und Sie sagen, Sie haben fünfzig Fuß durchhöhlt, um hierher zu gelangen?

Ja, dies ist ungefähr die Entfernung, die mein Zimmer von dem Ihrigen trennt; nur habe ich in Ermangelung von geometrischen Instrumenten meine krumme Linie schlechtberechnet; statt vierzig Fuß war sie fünfzig lang. Ich hoffte, wie ich Ihnen gesagt habe, bis zur äußeren Mauer zu gelangen, diese Mauer zu durchhöhlen und mich ins Meer zu werfen. Ich habe längs dem Gang, an den Ihr Zimmer stößt, gearbeitet, statt darunter durchzudringen. Meine ganze Arbeit ist umsonst, denn dieser Gang führt auf einen Hof, der voll von Wachen ist.