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Das ist wahr, sagte Dantes, aber der Gang läuft nur an einer Seite meines Zimmers hin, und mein Zimmer hat vier.

Ja, richtig, aber hier ist vor allem eine, deren Mauern der Felsenbildet. Esbedürfte einer zehnjährigen Arbeit von zehn mit allen Werkzeugen versehenen Männern, um durch den Felsen zu kommen. Die andere muß an den Raum unterhalbder Wohnung des Gouverneurs hinführen; wir würden in den Keller geraten, der offenbar abgeschlossen ist, und man würde uns wieder gefangen nehmen. Die dritte Seite, warten Sie, wohin geht die dritte Seite? Diese Seite war die, wo man das Luftloch angebracht hatte, durch welches das Tageslicht eindrang. Dieses Luftloch, das sich immer mehr verengte, bis zu der Stelle, wo es dem Tageslichte Eingang gewährte, und wo ein Kind sich nicht hätte durchzwängen können, war überdies mit drei Reihen eiserner Stangen verwahrt, die auch den argwöhnischsten Kerkermeister keine Entweichungbefürchten ließen.

Der Unbekannte aber zog, während er seine Frage stellte, den Tisch unter das Fenster und sagte zu Dantes: Steigen Sie auf diesen Tisch!

Dantes gehorchte, stieg auf den Tisch, lehnte, die Absicht seines Gefährten erratend, seinen Rücken an die Mauer und hielt ihm seine Hände hin. Der andere stieg nunbehender, als sein Alter annehmen ließ, zuerst auf den Tisch, dann auf Dantes' Hände und von da auf seine Schultern. Halbgebückt, denn das Gewölbe des Kerkers hinderte ihn, sich auszurichten, streckte er den Kopf zwischen die erste Reihe der Stangen und war nun im stande, hinabzuschauen. — Einen Augenblick nachher zog er rasch den Kopf zurück und sprang auf die Erde.

Oh! oh! sagte er, ich hatte es vermutet.

Was hatten Sie vermutet? fragte der junge Mann ängstlich und sprang ebenfalls herab. Der alte Gefangene überlegte, dann sagte er: Diese Seite Ihres Kerkers geht auf die äußere Galerie, auf eine Art Rundgang, über den die Patrouillen kommen und wo Schildwachen stehen. Ich habe den Tschako eines Soldaten gesehen und zog mich nur aus Furcht, er könnte mich wahrnehmen, so schnell zurück; es ist also unmöglich, durch Ihren Kerker zu entfliehen.

Also? frug der junge Mann.

Also geschehe der Wille Gottes!

Und ein Ausdruck tiefer Resignation verbreitete sich über die Gesichtszüge des Greises. Dantes schaute den Mann, der mit so viel Philosophie auf eine seit langer Zeit genährte Hoffnung Verzicht leistete, mit einem mitBewunderung gemischten Erstaunen an.

Wollen Sie mir nun sagen, wer Sie sind? fragte Dantes.

Oh! mein Gott, ja, wenn es Sie noch interessieren kann, jetzt, da ich für Sie zu nichts mehr gutbin.

Sie können mir dazu gut sein, daß Sie mich trösten und aufrecht erhalten, denn Sie scheinen mir ein Starker unter den Starken zu sein.

Der Alte lächelte traurig und sagte: Ichbin der Abbé Faria, seit 1811 Gefangener im Kastell If, war jedoch vorher drei Jahre lang in der Festung Fenestrelle eingesperrt. Im Jahre 1808brachte man mich von Piemont nach Frankreich. Damals erfuhr ich, daß das Schicksal, das ihm zu jener Zeit untertan zu sein schien, Napoleon einen Sohn gegeben hatte, und daß dieser Sohn in der Wiege zum König von Rom ernannt worden sei. Ich war weit entfernt, zu ahnen, was Sie mir vorhin sagten, daß nämlich vier Jahre später der Koloß eingestürzt ist. Wer regiert denn jetzt in Frankreich? Napoleon II.?

Nein, Ludwig XVIII.

Ludwig XVIII., derBruder Ludwigs XVI.! Die Wege des Himmels sind seltsam und geheimnisvoll. Was war die Absicht der Vorsehung, als sie den Mann erniedrigte, den sie erhoben hatte, und den erhob, den sie erniedrigt hatte?

Dantes sah überrascht den Mann an, der sein eigenes Schicksal ganz zu vergessen schien, um sich mit dem Geschicke der Welt zubeschäftigen.

Ja, fuhr er fort, es ist wie in England; nach Karl I. Cromwell, nach Cromwell Karl II. und vielleicht nach JakobII. irgend ein Schwiegersohn, ein Verwandter, ein Prinz von Oranien, ein Staathouder, der sich zum König machen wird, und dann neue Zugeständnisse an das Volk, dann eine Verfassung, dann die Freiheit! Sie werden das erleben, junger Mann, sagte er, zu Dantes gewandt, und schaute ihn mit den glänzenden, tiefen Augen eines Propheten an. Sie sind noch in einem Alter, um es zu erleben, und werden es erleben.

Ja, wenn ich von hier wegkomme.

Ah! das ist richtig, sagte der Abbé Faria, wir sind Gefangene; es gibt Momente, wo ich es vergesse und mich in Freiheit glaube, weil meine Augen die Wände durchdringen, die mich umschließen.

Aber warum sind Sie eingesperrt?

Ich? Weil ich im Jahre 1807 von dem Plane träumte, den Napoleon im Jahre 1811 verwirklichen wollte, weil ich wie Macchiavell mitten unter diesen Fürstlein, die aus Italien ein Satirspiel tyrannischer, schwacher Königreiche machten, ein einziges und großes, fest gefügtes Reich gründen wollte, weil ich meinen CesareBorgia in einem einfältigen, gekrönten Haupte zu finden glaubte, das sich den Anschein gab, als verstünde es mich, um michbesser verraten zu können. Es war der Plan Alexanders VI. und Clemens' VII.; er wird ewig scheitern, da sie ihn vergeblich unternommen haben und Napoleon ihn nicht zu Ende führen konnte; Italien ist offenbar verflucht.

Und der Greis neigte sein Haupt. Dantesbegriff nicht, wie ein Mensch sein Leben für solche Interessen wagen konnte. War ihm Napoleonbekannt, weil er ihn gesehen und mit ihm gesprochen hatte, so kannte er Clemens VII. und Alexander VI. nicht einmal dem Namen nach.

Sind Sie nicht, sagte Dantes, der die allgemeine Meinung im Kastell If über seinen neuenBekannten zu teilen anfing, sind Sie nicht der Priester, den man für… krank hält?

Den man für verrückt hält, wollen Sie sagen, nicht wahr? Ja, ja, fuhr Faria mitbitterm Lachen fort, ja, ich gelte für einen Narren. Ich diene seit geraumer Zeit den Gästen dieses Gefängnisses zum Spott und würde den kleinen Kindern zum Spott dienen, wenn es Kinder an diesem Wohnorte des trostlosen Schmerzes gäbe.

Dantesbliebeinen Augenblick unbeweglich und stumm vor Erstaunen, ehe er fragte: Sie verzichten also auf die Flucht?

Ich sehe, daß die Flucht unmöglich ist. Das versuchen, was nach Gottes Willen nicht geschehen soll, hieße Gott versuchen.

Warum lassen Sie sich entmutigen? Mit dem ersten Schlage siegen zu wollen, wäre zuviel von der Vorsehung verlangt. Können Sie nicht in einer andern Richtung wieder anfangen, was Sie in dieser getan haben?

Wissen Sie, was ich getan habe, daß Sie von Wiederanfangen sprechen? Wissen Sie, daß ich vier Jahrebrauchte, um die Werkzeuge zu verfertigen, welche ichbesitze? Wissen Sie, daß ich seit zwei Jahren eine Erde auskratze und aushöhle, die so hart ist wie Granit? Wissen Sie, daß ich Steine lösen mußte, die ich früher nichtbewegen zu können glaubte, daß ganze Tage mit dieser Titanenarbeit vergingen, und daß ich zuweilen am Abend glücklich war, wenn ich einen Quadratzoll von diesem alten Mörtel weggebrochen hatte, der so hart geworden war wie der Stein selbst? Wissen Sie, daß ich, um alle diese Erde und alle diese Steine unterzubringen, das Gewölbe einer Treppe durchbrechen mußte, unter dem nach und nach alle diese Trümmerbegraben wurden, so daß der früher leere Raum gänzlich voll ist, und daß ich nicht wüßte, wohin ich nur noch eine Handvoll Staublegen sollte? Wissen Sie endlich, daß ich das Ziel aller meiner Anstrengungen zu erreichen glaubte, daß ich gerade nur die Kraft in mir fühlte, dieser Aufgabe zu entsprechen, und daß Gott dieses Ziel nicht nur zurückgerückt, sondern es, ich weiß nicht einmal wohin gesetzt hat? Ah! ich wiederhole Ihnen, ich werde fortan nichts mehr versuchen, um meine Freiheit zu erringen.