Der Abbé Faria ließ sich auf EdmondsBett nieder, Edmond aberbliebstehen. Der junge Mann hatte nie an Flucht gedacht, die ihm sogar in der Vorstellung unmöglich schien. Fünfzig Fuß unter der Erde zu graben, dieser Operation eine Arbeit von drei Jahren zu widmen, um, wenn sie gelingt, an einen senkrecht ins Meer fallenden Absturz zu gelangen, sich fünfzig, sechzig, vielleicht hundert Fuß hinabzuwerfen, um sichbeim Fallen den Schädel auf irgend einem Felsen zu zerschmettern, wenn man nicht schon von der Kugel der Schildwache getötet worden ist, und entgeht man wirklich allen diesen Gefahren, schwimmend eine Meile zurücklegen zu müssen, das war zu viel, um ihm nicht ungeheuerlich, ja unmöglich zu erscheinen.
Jetzt aber, da er einen Greis erblickte, der sich so mächtig an das Leben anklammerte und ihm einBeispiel verzweiflungsvoller Tatkraft gab, fing er an, nachzudenken und seinen Mut zu messen. Ein andrer hatte versucht, was zu tun ihm nicht einmal in den Sinn gekommen war; ein anderer, minder jung, minder stark und gewandt als er, hatte sich durch Geschicklichkeit und Geduld alle Werkzeuge verschafft, deren er für seine unglaubliche Arbeitbedurfte, die nur infolge eines Rechenfehlers mißglückte. Faria hatte fünfzig Fuß durchgraben, er, Edmond Dantes, wollte hundert durchgraben, Faria hatte in einem Alter von fünfzig Jahren drei Jahre zu seinem Werke verwendet, er war nur halbso alt als Faria und konnte sechs dazu verwenden. Faria, ein Abbé, ein Gelehrter, ein Mann der Kirche, hatte sich nicht vor dem Wagnis gefürchtet, schwimmend vom Kastell das Land zu erreichen; er, der Seemann, der kühne Taucher, sollte zögern, eine Meile schwimmend zurückzulegen? War er nicht oft ganze Stunden im Meer geblieben? Nein, nein, erbedurfte nur der Ermutigung durch einBeispiel. Alles, was ein anderer getan hat oder hätte tun können, das vermochte auch Dantes zu tun…
Der junge Mann überlegte einen Augenblick, ehe er zu dem Greise sagte: Ich habe gefunden, was Sie suchten.
Sie? sagte Faria, indem er den Kopf mit einer Miene emporrichtete, die andeutete, daß, wenn Dantes die Wahrheit sprach, die Entmutigung seines Gefährten nicht von langer Dauer sein sollte; lassen Sie hören! Was haben Sie gefunden?
Der Gang, den Sie durchgegraben haben, um von Ihnen aus hierher zu kommen, läuft in derselben Richtung, wie die äußere Galerie, nicht wahr? — Ja.
Er kann also höchstens fünfzehn Schritt davon entfernt sein, und wir graben gegen die Mitte des Ganges einen Weg, der gleichsam den Zweig eines Kreuzesbildet. Dann mündet er an der äußeren Galerie. Wir töten die Wache und entfliehen. Damit dieser Plan gelinge, bedarf es nur des Mutes, und Mut haben Sie; esbedarf nur der Stärke, und daran fehlt es mir nicht. Ich spreche nicht von der Geduld, Sie haben Proben davon abgelegt, und ich werde sie auch ablegen.
Einen Augenblick, antwortete der Abbé, Sie wußten nicht, mein lieber Gefährte, von welcher Art mein Mut ist, und wie ich meine Kraft anzuwenden gedenke. Was die Geduldbetrifft, so glaube ich allerdings geduldig genug gewesen zu sein, indem ich jeden Morgen die Aufgabe der Nacht und jede Nacht die Aufgabe des Tages wieder anfing. Aber hören Sie wohl, junger Mann, ich stellte mir vor, ich diente Gott, indem ich eines von seinen Geschöpfenbefreite, das, da es unschuldig war, nicht verdammt sein konnte.
Nun? fragte Dantes, steht es jetzt nicht noch ebenso, und halten Sie sich für schuldig, seit Sie mich trafen?
Nein, aber ich will es nicht werden. Bis jetzt hatte ich nur mit Dingen zu kämpfen; bei dem, was Sie mir vorschlagen, hätte ich es mit Menschen zu tun. Ich habe eine Mauer durchbohrt und eine Treppe zerstört; aber ich werde keineBrust durchbohren und kein Dasein zerstören.
Dantes konnte eineBewegung des Erstaunens nicht unterdrücken.
Wie, sagte er, da Sie frei werden können, lassen Sie sich durch eine solcheBedenklichkeit zurückhalten?
Warum haben Sie nicht selbst eines Abends Ihren Kerkermeister mit einem Tischbein totgeschlagen und dann seine Kleider angezogen, und sind damit entflohen? entgegnete Faria.
Weil mir dieser Gedanke nicht gekommen ist, sagte Dantes.
Weil Sie einen solchen Abscheu vor einem solchen Verbrechen hatten, daß Sie nicht einmal daran dachten, versetzte der Greis; dennbei einfachen und erlaubten Dingenbelehrt uns unser natürliches Gefühl, daß wir nicht von der Linie unseres Rechtes abgehen. Der Mensch hat einen Widerwillen gegenBlutvergießen. Nicht nur die gesellschaftlichen Gesetze widerstreben dem Morde, sondern auch die natürlichen Gesetze.
Dantesbliebganz verblüfft, es war dies wirklich die Erklärung dessen, was, ohne dass er sich dessenbewußt war, in seinem Geiste oder vielmehr in seinem Gemüte vorgegangen war.
Und dann, fuhr Faria fort, seit den zwölf Jahren, die ich im Gefängnissebin, habe ich in meinem Innern alleberühmt gewordenen Fluchtversuche überdacht, gewaltsame sah ich aber nur selten gelingen. Von Erfolg waren meist nur die sorgfältig überdachten und langsam vorbereiteten Entweichungen. So entkamen der Herzog vonBeaufort aus dem Schlosse Vincennes, der Abbé Dubuquoi aus dem Fort L'Eveque und Latude aus derBastille. Es gibt noch eine andere Art der Flucht, die in der Ausnutzung eines glücklichen Zufallsbesteht, und diese Art ist diebeste. Folgen Sie meinem Rate! Lassen Sie uns auf eine Gelegenheit warten, und wenn sich eine solchebietet, siebenutzen.
Sie konnten warten, sagte Dantes seufzend, diese lange Arbeit gabIhnen jeden AugenblickBeschäftigung, und hatten Sie nicht Ihre Arbeit, um sich zu zerstreuen, so hatten Sie zum Troste Ihre Hoffnung.
Ichbeschäftigte mich nicht allein hiermit.
Was taten Sie sonst? — Ich schrieboder studierte. — Man gabIhnen also Papier, Feder und Tinte? — Nein, sagte der Abbé, aber ich machte mir dies alles.
Dantes schaute den Abbé mitBewunderung an; nur hatte er Mühe, an das zu glauben, was er sagte. Fariabemerkte seinen Zweifel. Wenn Sie zu mir kommen, sagte er, werde ich Ihnen ein vollständiges Werk zeigen, das Resultat von Gedanken, von Nachforschungen undBetrachtungen meines ganzen früheren Lebens, von denen ich freilich nicht ahnen konnte, daß ich sie einst zwischen den Mauern des Kastells If niederschreiben würde. Es ist eine» Abhandlung über die Möglichkeit einer einigen Monarchie in Italien«, die einen Quartband füllen wird.
Und Sie haben diesbereits geschrieben?
Auf zwei Hemden. Ich habe ein Verfahren erfunden, das Weißzeug glatt und eben zu machen wie Pergament.
Sie sind also Chemiker?
Ein wenig. Ich habe Lavoisier kennen gelernt und stand mit Cabanis in Verbindung.
Doch zu einem solchen Werke mußten Sie Studien machen. Siebesaßen alsoBücher?
In Rom hatte ich in meinerBibliothek ungefähr fünftausendBände. Ich fand aber, daß man mit hundertundfünfzig gut ausgewählten Werken, wenn nicht den Gesamtinhalt aller menschlichen Kenntnisse, doch wenigstens dasbesitzt, was einem Menschen zu wissen frommt. Drei Jahre habe ich dazu verwendet, diese hundertundfünfzigBände zu lesen und wieder zu lesen, und wußte sie sobeinahe auswendig, als man mich verhaftete. In meinem Gefängnis erinnerte ich mich derselben mit einer leichten Anstrengung des Gedächtnisses. Ich könnte Ihnen Thucydides, Xenophon, Livius, Tacitus, Strabo, Dante, Montaigne, Shakespeare, Spinoza und Macchiavell auswendig hersagen. Ich nenne Ihnen hier nur die wichtigsten.
Sie verstehen also mehrere Sprachen?
Ich spreche fünf lebende Sprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch, Englisch und Spanisch.
Immer mehr erstaunt, fing Edmond an, die Fähigkeiten dieses seltsamen Mannesbeinahe für übernatürlich zu halten. Seine Neugierde wurde immer lebhafter, und er fragte: Aber wenn man Ihnen keine Federn gegeben hat, womit konnten Sie eine so umfangreiche Abhandlung schreiben?
Ich habe mir vortreffliche gemacht, und man würde sie den gewöhnlichen Federn vorziehen, wenn man den Stoff kennte. Siebestehen aus den Knorpeln der großen Merlane, die man uns an Fasttagen zu essen gibt. So sehe ich diesen immer mit Vergnügen entgegen, weil ich hoffe, meinen Federvorrat zu vermehren, denn meine geschichtlichen Arbeiten sind meine angenehmsteBeschäftigung. Wenn ich in die Vergangenheit hinabsteige, vergesse ich die Gegenwart; bewege ich mich frei und unabhängig in der Geschichte, so weiß ich nichts mehr davon, daß ich ein Gefangenerbin.