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Ohne Sie! rief er. Hielten Sie mich wirklich dessen fähig?

Jetzt sehe ich, daß ich mich getäuscht habe, sagte der Kranke. Oh! ichbin sehr, sehr schwach.

Mut! Ihre Kräfte werden wiederkehren, sagte Dantes, setzte sich neben seinBett und nahm ihnbei den Händen.

Der Abbé schüttelte den Kopf und erwiderte:

Das letztemal dauerte der Anfall eine halbe Stunde, wonach ich Hunger hatte und allein aufstand; heute kann ich weder meinBein, noch meinen rechten Arm rühren, mein Kopf ist eingenommen, was auf einen Erguß im Gehirn hindeutet. Das drittemal werde ich völlig gelähmtbleiben oder auf der Stelle sterben.

Nein, nein, beruhigen Sie sich, Sie werden nicht sterben; der dritte Anfall wird Sie, wenn er wirklich kommt, frei finden; wir werden Sie retten, wie diesmal undbesser als diesmal, denn es steht uns dann jede erforderliche Hilfe zu Gebote.

Mein Freund, sagte der Greis, täuschen Sie sich nicht! Die Krise, die soeben vorübergegangen ist, hat mich zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurteilt; um zu fliehen, muß man gehen können.

Nun, wir warten acht Tage, einen Monat, zwei Monate, wenn es sein muß! Inzwischen erlangen Sie Ihre Kräfte wieder. Alles ist zur Flucht vorbereitet, und wir können nach unsermBelieben die Stunde und den Augenblick dazu wählen. An dem Tage, wo Sie sich kräftig genug fühlen, um zu schwimmen, bringen wir unsern Plan in Ausführung.

Ich werde nie mehr schwimmen, erwiderte Faria, dieser Arm ist gelähmt, nicht für einen Tag, sondern für immer. Heben Sie ihn selbst auf und sehen Sie, wie schwer er ist!

Der junge Mann hobihn auf, und der Arm viel unempfindlich wieder zurück. Er stieß einen Seufzer aus.

Sie sind nun überzeugt, nicht wahr, Edmond? sagte der Abbé; glauben Sie mir, ich weiß, was ich sage; seit dem ersten Anfall dachte ich unablässig darüber nach. Ich erwartete es, denn es ist eine Familienerbschaft; mein Vater starban der dritten Krise, mein Großvater ebenfalls. Derberühmte Arzt Cabanis, der mir diesen Trankbereitete, weissagte mir dasselbe Schicksal.

Der Arzt täuscht sich, rief Dantes. Ihre Lähmung aber hindert mich nicht, ich nehme Sie auf meine Schultern und schwimme so mit Ihnen.

Kind, entgegnete der Abbé, Sie sind ein Seemann, Sie sind ein Schwimmer und müssen folglich wissen, daß ein Mensch mit einer solchen Last nicht fünfzig Klafter weit kommen würde. Lassen Sie sich nicht länger durch Hirngespinste täuschen, von denen nicht einmal Ihr vortreffliches Herzbetört wird. Ich werde hierbleiben, bis die Stunde meinerBefreiung schlägt, die jetzt nur die des Todes sein kann. Was Siebetrifft… fliehen Sie! Sie sind jung, stark und gewandt; kümmern Sie sich nicht um mich; ich gebe Ihnen Ihr Wort zurück.

Gut, sagte Dantes, gut, sobleibe ich auch hier.

Dann stand er auf, streckte feierlich eine Hand gegen den Greis aus und rief: Bei demBlute Christi schwöre ich, daß ich Sie nurbei Ihrem Tode verlasse!

Faria schaute den edeln, einfachen und in seiner entsagungsvollen Liebe so erhabenen jungen Mann an und las in seinen von dem Ausdrucke der reinsten Ergebenheitbelebten Zügen die Aufrichtigkeit seiner Zuneigung und die Redlichkeit seines Schwures.

Gut, sagte der Kranke, ich nehme es an und danke.

Hierauf Edmond die Hand reichend, fuhr er fort: Sie werden vielleicht für diese uneigennützige Ergebenheitbelohnt; zunächst müssen wir unbedingt die Höhlung verstopfen, die wir unter der Galerie gemacht haben; dem Soldaten kann der hohle Klang auffallen, erbringt die Sache zur Anzeige, und wir werden entdeckt und getrennt. Vollbringen Sie diese Aufgabe, wobei ich Sie leider nicht mehr unterstützen kann; verwenden Sie die ganze Nacht dazu, wenn es sein muß, und kommen Sie erst morgen nach demBesuche des Gefangenwärters zurück; ich habe Ihnen, denke ich, etwas Wichtiges zu sagen…

Dantes nahm den Abbébei der Hand; dieserberuhigte ihn durch ein Lächeln, und er entfernte sich mit dem Gehorsam und der Achtung, die er für seinen alten Freund hegte.

Das Brevier

Als Dantes am andern Morgen in das Zimmer seines Leidensgefährten zurückkehrte, fand er Faria mit ruhigem Antlitz unter dem Strahle sitzend, der durch das enge Fenster seiner Zelle glitt. Er hielt in seiner linken Hand ein Stück Papier und zeigte es, ohne etwas zu sagen, seinem jungen Freunde.

Was ist das? fragte dieser.

Schauen Sie es recht an, erwiderte der Abbé lächelnd.

Ich sehe nichts, als ein halbverbranntes Papier, auf dem gotische Zeichen mit einer seltsamen Tinte gezeichnet find.

Dieses Papier, mein Freund, ist mein Schatz, von dem von heute an die Hälfte Ihnen gehört.

Kalter Schweiß lief über Dantes' Stirn. Bis auf diesen Tag hatte er es vermieden, mit Faria über diesen Schatz zu sprechen, von dem sich die Ansicht vom Wahnsinn des armen Abbés herleitete. Voll Zartgefühl, wie er war, zog es Edmond immer vor, diese schmerzlich tönende Saite nicht zuberühren; Faria schwieg ebenfalls, und Dantes hielt das Stillschweigen des Greises für eine Rückkehr zur Vernunft. Heute aber schienen die Worte, die Faria nach einer so peinvollen Krise entschlüpften, einen schweren Rückfall geistigerBewölkung anzukündigen.

Ihr Schatz? stammelte Dantes.

Faria lächelte. Ja, Sie sind in jeder Hinsicht ein edles Herz, Edmond, und ich erkenne aus IhrerBlässe und Ihrem Schauer, was in diesem Augenblick in Ihnen vorgeht. Nein, seien Sie ruhig, ichbin kein Narr; dieser Schatzbesteht, Dantes, und wenn es mir nicht gegeben gewesen ist, ihn zubesitzen, so werden Sie ihn wenigstensbesitzen. Niemand wollte mich hören, niemand wollte mir glauben, weil man mich für verrückt hielt; aber Sie, der Sie wissen, daß ich es nichtbin, Sie werden mirbald glauben.

Ach! er leidet also an einem Rückfall; dieses Unglück fehlte mir noch, murmelte Edmond, nahm das Papier, von dem die Hälfte, die offenbar durch irgend einen Zufall zerstört worden war, fehlte, und las die darauf stehenden Worte.

Nun? sagte Faria, als er zu Ende war.

Ich sehe da nur verstümmelte Zeilen, Worte ohne Zusammenhang, erwiderte Dantes; die Schriftzeichen sind unterbrochen undbleiben unverständlich.

Für Sie, mein Freund, der Sie es zum erstenmal lesen, aber nicht für mich, der ich viele Nächte hindurch darüber gebrütet, der ich jeden Satz wieder ausgebaut, jeden Gedanken vervollständigt habe.

Und Sie glauben den Sinn wiedergefunden zu haben?

Ichbin dessen gewiß; Sie sollen selbst urteilen! Vernehmen Sie aber zuerst die Geschichte dieses Papiers!

Still! rief Dantes; Tritte! — man naht — ich gehe.

Glücklich, der Geschichte und der Erläuterung zu entgehen, die ihm, wie er meinte, unfehlbar das Unglück seines Freundesbestätigen würden, schlüpfte Dantes in den engen Gang, während Faria, sich mit aller Macht aufraffend, mit einem Fuße die Platte zurückstieß, die er mit einer Mattebedeckte.

Es war der Gouverneur, dem der Kerkermeister über Farias Unfallberichtet hatte, und der sich selbst von dem Zustand des Gefangenen überzeugen wollte. Faria empfing ihn sitzend, vermied jede verräterische Gebärde, und so gelang es ihm, vor dem Gouverneur die Lähmung zu verbergen, diebereits die Hälfte seines Körpers ergriffen hatte. Erbefürchtete hauptsächlich, der Gouverneur könnte ihn aus Mitleid in ein gesünderes Gefängnisbringen lassen und dadurch von seinem jungen Gefährten trennen. Seine Furcht war jedoch unbegründet, und der Gouverneur entfernte sich, überzeugt, sein armer Narr, für den er im Grunde seines Herzens eine gewisse Teilnahme hegte, sei nur von einer leichten Unpäßlichkeit heimgesucht.

Mittlerweile suchte Edmond, auf seinemBette sitzend und den Kopf in seinen Händen, seine Gedanken zu sammeln; alles schien an Faria, seitdem er ihn kannte, so vernünftig, so groß und so logisch, daß er gar nicht fassen konnte, wie diese sonst allgemeine Klarheit der Erkenntnis in dem einen Punkte, nämlich in dem Wahn eines Schatzes, völlig versage.