Edmond vermochte nur die Hände zu falten und auszurufen: Oh! mein Freund, mein Freund, schweigen Sie!
Dann raffte er seinen gesunkenen Mut wieder zusammen und sagte: Oh! ich habe Siebereits einmal gerettet und werde Sie gewiß zum zweitenmale retten.
Er hobden Fuß desBettes auf und zog die von dem roten Saft noch halbvolle Flasche hervor.
Sehen Sie, es ist noch von dem rettenden Tranke übrig. Geschwind, sagen Sie mir, was habe ich zu tun?
Es ist keine Hoffnung mehr vorhanden, erwiderte Faria, den Kopf schüttelnd, doch gleichviel, Gott will, daß der Mensch, den er geschaffen hat und in dessen Herzen er die Liebe zum Leben so tiefe Wurzeln schlagen ließ, alles tue, was er vermag, um dieses zuweilen so peinliche, stets aber so teure Dasein zu erhalten.
Oh! ja! ja! rief Dantes, und ich werde Sie retten.
Wohl! versuchen Sie es, die Kälte übermannt mich, ich fühle, wie dasBlut meinem Gehirn zuströmt; der furchtbare Schauder, der meine Zähne klappern läßt und meine Knochen auseinanderzureißen scheint, beginnt an meinem Körper zu rütteln. In fünf Minuten wird das Übel ausbrechen, in einer Viertelstundebin ich eine Leiche.
Oh! rief Dantes, das Herz von Schmerzen zerrissen.
Sie machen es wie das erstemal, nur warten Sie nicht so lange! Alle Federn des Lebens sind schon mächtig abgenutzt, und der Tod, fuhr er, auf seine gelähmten Glieder deutend, fort, wird nur noch die halbe Arbeit haben. Sehen Sie, nachdem Sie mir zwölf Tropfen statt zehn eingeflößt, daß ich nicht zu mir komme, so flößen Sie mir den Rest ein. Nun tragen Sie mich auf meinBett, denn ich vermag nicht mehr zu stehen!
Edmond nahm den Greis in seine Arme und legte ihn auf seinBett.
Mein Freund, sagte Faria, einziger Trost meines elenden Lebens, den mir der Himmel ein wenig spät gegeben, aber dennoch gegeben, als ein unschätzbares Geschenk, wofür ich ihm danke! In dem Augenblick, wo wir uns für immer trennen, wünsche ich Ihnen alles Glück, alles Wohlergehen, das Sie verdienen. Mein Sohn, ich segne Sie.
Der junge Mann warf sich auf die Knie und stützte den Kopf an dasBett des Greises.
Hören Sie wohl, was ich Ihnen in diesem Augenblicke sage. Der Schatz der Spada ist vorhanden; Gott läßt vor meinen Augen alle Hindernisse schwinden. Ich sehe ihn im Hintergrund der zweiten Grotte, meine Augen durchdringen die Tiefen der Erde und sind geblendet von so vielen Reichtümern… Wenn Ihnen die Flucht gelingt, so erinnern Sie sich, daß der alte Abbé, den die ganze Welt für verrückt hielt, es nicht war. Eilen Sie nach Monte Christo, benutzen Sie unser Vermögen, Sie haben genug gelitten.
Eine heftige Erschütterung unterbrach den Greis. Dantes richtete den Kopf auf und sah, wie seine Augen rot unterliefen; es war, als stiege eineBlutwoge aus seinerBrust nach seiner Stirn auf.
Gottbefohlen, murmelte der Greis, indem er krampfhaft nach der Hand des jungen Mannes griff; Gottbefohlen!
Oh! noch nicht, noch nicht, rief Dantes. Oh, mein Gott, verlaß uns nicht, steh ihmbei…
Und mit einer letzten Anstrengung, wobei er alle seine Kräfte zusammenraffte, sich erhebend, stieß der Abbé seine letzten Worte hervor: Monte Christo! Vergessen Sie Monte Christo nicht!
Danach fiel er auf seinBett zurück.
Die Krise war furchtbar. Als Dantes glaubte, es sei Zeit, drückte er die Zähne auseinander, die weniger Widerstandboten, als das erstemal, zählte zwölf Tropfen und wartete; die Phiole enthielt ungefähr noch das Doppelte von dem, was er eingeflößt hatte. Er wartete zehn Minuten, eine Viertelstunde, eine halbe Stunde, nichts rührte sich. Zitternd, mit starrem Haar und von kaltem Schweißbedeckter Stirn zählte er die Sekunden an den Schlägen seines Herzens.
Er dachte, nun sei der Augenblick gekommen, um den letzten Versuch zu machen, und flößte ihm den ganzen Trank ein. Das Mittelbrachte eine galvanische Wirkung hervor, ein heftiges Zittern schüttelte die Glieder des Greises, seine Augen öffneten sich, er stieß einen Seufzer aus, der einem Schrei glich; dann kehrte derbebende Körper allmählich zur Unbeweglichkeit zurück; die Augen alleinblieben offen. Eine halbe Stunde, eine Stunde, anderthalbStunden vergingen. Während dieserbangen Zeit fühlte Edmond, wie nach und nach das immer dumpfere und schwächere Schlagen dieses Herzens erlosch. Endlich lebte nichts mehr, das letzteBeben des Herzens hörte auf, das Gesicht wurdebleifarbig, die Augenblieben offen, aber derBlick verglaste sich.
Es war sechs Uhr morgens, der Tag fing an zu grauen, und sein matter Strahl ließ das sterbende Licht der Lampe erbleichen. Seltsame Lichter zogen über das Antlitz des Leichnams hin und gaben ihm von Zeit zu Zeit einen Anschein von Leben. Solange dieser Streit zwischen Tag und Nacht währte, konnte Dantes noch zweifeln; aber sobald der Tag gesiegt hatte, begriff er, daß er mit einer Leiche allein war. Dabemächtigte sich seiner ein heftiger, unüberwindlicher Schrecken; er löschte die Lampe aus, verbarg sie sorgfältig und entfloh, indem er die Platte so gut als möglich wieder über seinem Haupte einzufügen suchte. Es war übrigens Zeit, denn der Kerkermeister kam unmittelbar nach ihm.
Dantes erfaßte nun eine unsägliche Ungeduld, zu erfahren, was in dem Kerker seines Freundes vorgehe. Er kehrte in den Gang zurück und kam zu rechter Zeit, um die Stimme des Schließers zu hören, der nach Hilfe rief. Bald traten die andern Schließer ein; dann vernahm man den schweren Tritt der Soldaten. Hinter den Soldaten kam der Gouverneur. Edmond hörte das Geräusch desBettes, auf dem man den Leichnam hin und herbewegte; er hörte, wie der GouverneurBefehl gab, ihm Wasser ins Gesicht zu spritzen, und als er sah, daß der Gefangenebei derBenetzung nicht zu sich kam, den Arzt holen ließ. Der Gouverneur entfernte sich, und einige Worte des Mitleids, mit spöttischem Lachen vermischt, drangen zu dem Ohre des Lauschers.
Seht ihr, sagte der eine, der Narr hat sich zu seinen Schätzenbegeben; glückliche Reise!
Mit allen seinen Millionen wird er nicht einmal ein Leintuchbezahlen können, sagte der andere.
Oh! versetzte ein dritter, die Leintücher vom Kastell If kosten nicht viel.
Vielleicht wird man einigen Aufwand für ihn machen, sagte der, welcher zuerst gesprochen hatte. Es wird ihm vielleicht die Ehre des Sackes zuteil werden.
Bald erloschen die Stimmen, und es kam Edmond vor, als obdie Leute die Zelle verließen. Er wagte es jedoch nicht, hineinzugehen, denn man konnte einen Schließer zurBewachung des Toten zurückgelassen haben. Nach Verlauf einer Stundebelebte sich die Stille durch ein Geräusch, dasbald zunahm. Es war der Gouverneur, der, vom Arzte und mehreren Offizierenbegleitet, zurückkehrte. Es wurde wieder einen Augenblick still; der Arzt näherte sich offenbar demBette und untersuchte den Leichnam. Baldbegannen die Fragen. Der Arzt schilderte das Leiden, dem der Kranke unterlegen war, und erklärte ihn für tot. Fragen und Antworten wurden mit einer Gleichgültigkeit gemacht, die Dantes empörte. Es schien ihm, als müßte die ganze Welt für den armen Abbé einen Teil der Zuneigung fühlen, die er für ihn hegte.
Was Sie da sagen, tut mir leid, sagte der Gouverneur in Erwiderung auf die Todeserklärung. Er war ein sanfter, harmloser und durch seine Narrheitbelustigender Gefangener. Nicht wahr, Sie haben sich nie über ihn zubeklagen gehabt? fragte er den Schließer, der dem Abbé die Lebensmittel zubringenbeauftragt gewesen war.
Nie, Herr Gouverneur, antwortete dieser, nie, gar nie; ich habe ihm immer gern zugehört, wenn er mir früher Geschichten erzählte; als meine Frau krank war, hat er mir sogar ein Rezept gegeben, das sie heilte.
Ah! ah! rief der Arzt, ich wußte nicht, daß ich es mit einem Kollegen zu tun hatte. Ich hoffe, Herr Gouverneur, fügte er lachend hinzu, Sie werden ihn standesgemäßbestatten.
Ja, ja, seien Sie unbesorgt; er soll anständig in dem neuesten Sack, den man finden kann, begraben werden.
Neues Kommen und Gehen ließ sich vernehmen; einen Augenblick nachher drang ein Geräusch wie von Leinwand, die aneinander gerieben wird, an Dantes' Ohr, dasBett krachte auf seinen Federn, ein schwerer Tritt, wie der eines Mannes, der eine Last aufhebt, drückte auf die Platte, dann krachte dasBett abermals unter der Last, die man ihm zurückgab.