Bourrienne küsste ehrerbietig die dargebotenen Krallen und klingelte nach dem Bürodiener, der an der Schwelle des Kabinetts erschien.
»Landoire«, sagte Bourrienne, »sagen Sie dem Hausdiener, dass der Erste Konsul heute in seinem Kabinett zu Mittag speisen wird. Er soll den Beistelltisch und zwei Gedecke bringen lassen; wir werden ihn benachrichtigen, wenn aufgetragen werden soll.«
»Und wer wird mit dem Ersten Konsul speisen, Bourrienne?«, fragte Joséphine neugierig.
»Das muss Sie nicht kümmern, solange es jemand ist, der ihn in gute Laune versetzt.«
»Aber wer ist es?«
»Wäre Ihnen lieber, er speiste mit Ihnen zu Mittag?«
»O nein, Bourrienne, o nein!«, rief Joséphine. »Er soll speisen, mit wem er will, und sich erst zum Diner blicken lassen.«
Damit entschwand sie. Eine Gazewolke rauschte vorbei, und Bourrienne war allein.
Zehn Minuten darauf wurde die Tür des Paradeschlafzimmers geöffnet, und der Erste Konsul kam zurück.
Er trat zu Bourrienne und stemmte die Fäuste auf den Schreibtisch seines Sekretärs.
»Wohlan, Bourrienne«, sagte er, »jetzt habe ich den berühmten Georges mit eigenen Augen gesehen.«
»Und welchen Eindruck hat er auf Sie gemacht?«
»Er ist einer der alten Bretonen aus der niederbretonischen Bretagne«, sagte er, »aus dem gleichen Granit gehauen wie ihre Menhire und Dolmen, und ich müsste mich sehr täuschen, sollte ich nicht noch mit ihm zu tun haben. Er kennt keine Furcht und hat keine Wünsche. Solche Männer sind zum Fürchten, Bourrienne.«
»Zum Glück sind sie selten«, erwiderte sein Sekretär lachend. »Sie werden es am besten wissen, denn Sie haben genug Maulhelden und Windfahnen erlebt.«
»Apropos Windfahne, hast du Joséphine gesehen?«
»Kurz bevor Sie kamen.«
»Ist sie zufrieden?«
»Ein Stein von der Größe Montmartres ist ihr von der Seele genommen.«
»Warum hat sie nicht auf mich gewartet?«
»Sie hat sich vor einer Strafpredigt gefürchtet.«
»Bah! Sie weiß, dass ihr die nicht erspart bleibt.«
»Ja, aber wenn man bei Ihnen Zeit gewinnt, hat man Aussicht auf gute Laune. Außerdem erwartete sie um elf Uhr eine Dame aus ihrem Freundeskreis.«
»Wer ist es?«
»Eine Kreolin aus Martinique.«
»Und sie heißt?«
»Gräfin von Sourdis.«
»Und wer sind diese Sourdis? Kennt man den Namen?«
»Das fragen Sie mich?«
»Gewiss doch. Kannst du etwa nicht das französische Adelsbuch auswendig aufsagen?«
»Nun gut! Es ist eine Familie mit sowohl ausgesprochen klerikaler als auch militärischer Ausrichtung, die sich bis in das 14. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. An dem französischen Vorstoß nach Neapel war, wenn ich mich recht erinnere, ein Graf von Sourdis beteiligt, der in der Schlacht von Garigliano wahre Heldentaten vollbrachte.«
»Die der Ritter Bayard so vollendet verlor.«
»Was halten Sie von dem Ritter ohne Furcht und Tadel?«
»Dass er seinen Namen verdient hat und gestorben ist, wie zu sterben der Wunsch jedes Soldaten sein sollte; aber ich habe keine hohe Meinung von all diesen tapferen Schwertfechtern: Als Generäle waren sie nichts wert. Franz I. war bei Pavia ein Dummkopf und bei Marignan ein Zauderer. Aber kehren wir zu den Sourdis zurück.«
»Gut. Unter Heinrich IV. gibt es eine Äbtissin von Sourdis, in deren Armen Gabrielle stirbt; sie war Parteigängerin der d’Estrées. Außerdem gibt es einen Grafen von Sourdis, Regimentsoberst unter Ludwig XV., der in der leichten Kavallerie bei Fontenoy große Tapferkeit bewiesen hat. Danach verliere ich sie in Frankreich aus den Augen; wahrscheinlich sind sie nach Amerika ausgewandert. In Paris haben sie das alte Stadtpalais Sourdis hinterlassen, das im Marais zwischen der Rue d’Orléans und der Rue d’Anjou liegt, und die Sackgasse Sourdis, die von der Rue des Fossés-Saint-Germain-l’Auxerrois abgeht. Wenn ich mich nicht täusche, hat unsere Gräfin von Sourdis, die, nebenbei gesagt, sehr reich ist, vor Kurzem das schöne Stadtpalais am Quai Voltaire als Wohnsitz erworben, das man von der Rue Bourbon aus betritt und das Sie aus den Fenstern des Pavillon Marsan sehen können.«
»Bravo! Solche Antworten lasse ich mir gefallen. Diese Sourdis scheinen mir nach Madames Faubourg Saint-Germain zu tendieren.«
»Aber nicht allzusehr. Sie sind sehr eng mit Doktor Cabanis verwandt, der, wie Sie wissen, unsere politischen Ansichten teilt. Er ist sogar Taufpate des jungen Fräuleins.«
»Aha! Das rückt die Sache in ein etwas besseres Licht. Diese ganzen Witwen von Stande aus dem Faubourg Saint-Germain sind ein schlechter Umgang für Joséphine.«
In diesem Augenblick drehte er sich um und erblickte den Tisch. »Habe ich gesagt, dass ich hier zu Mittag speisen will?«, fragte er gebieterisch.
»Nein«, erwiderte Bourrienne, »ich dachte mir nur, es wäre heute besser so.«
»Und wer erweist mir die Ehre, mit mir zu speisen?«
»Jemand, den ich eingeladen habe.«
»Angesichts der Laune, in der ich mich vorhin befand, hätten Sie sich ziemlich sicher sein müssen, dass dieser Jemand mir nicht ungelegen kommt.«
»Ich war mir dessen völlig sicher.«
»Und wer ist es?«
»Jemand, der von sehr weit her kommt und gerade ankam, als Sie im Salon Georges empfingen.«
»Ich hatte keine andere Audienz als die mit Georges.«
»Der betreffende Jemand ist ohne Audienz gekommen.«
»Sie wissen, dass ich niemanden ohne Anmeldung empfange.«
»Diesen Jemand werden Sie empfangen.«
Bourrienne stand auf, trat an den Schreibtisch der Offiziere und sagte nur die vier Worte: »Der Erste Konsul ist da.«
Bei diesen Worten sprang ein junger Mann mit einem Satz in das Kabinett des Ersten Konsuls; kaum fünf- oder sechsundzwanzig Jahre alt, trug er die Dienstuniform eines Generals.
»Junot!«, rief Bonaparte voller Freude. »Zum Henker, Bourrienne, du hattest recht, dass der hier keine Anmeldung braucht, um empfangen zu werden! Her mit dir, Junot!«
Und als der junge General Bonapartes Hand ergreifen wollte, um sie zu küssen, breitete der Erste Konsul die Arme aus und drückte ihn an sein Herz.
Unter den jungen Offizieren, die ihm ihren Aufstieg verdankten, schätzte Bonaparte Junot ganz besonders. Kennengelernt hatten sie sich bei der Belagerung von Toulon.
Bonaparte hatte damals die Batterie von Sansculotten befehligt. Er verlangte jemanden mit schöner Handschrift. Junot trat vor und stellte sich vor.
»Setz dich da drüben hin«, sagte Bonaparte und deutete auf die Schulterwehr der Batterie, »und schreibe, was ich dir diktiere.«
Junot gehorchte. Als er den Brief beendete, explodierte eine von den Engländern geworfene Bombe zehn Fuß von ihm entfernt und hüllte ihn in Staub.
»Schon gut«, sagte Junot lachend, »das kommt uns zupass, auf diese Weise sparen wir uns den Streusand für die Tinte.«
Diese Worte entschieden sein Schicksal.
»Willst du bei mir bleiben?«, fragte ihn Bonaparte. »Ich sorge für dich.«
»Mit Vergnügen«, erwiderte Junot.
Beide hatten einander instinktiv erkannt.
Als Bonaparte zum General ernannt wurde, beförderte er Junot zu seinem Aide de Camp.
Als Bonaparte aus dem Dienst entlassen war, hatten die zwei jungen Männer ihr trauriges Los geteilt und von den zwei-, dreihundert Francs gelebt, die Junot monatlich von seiner Familie erhielt.
Nach dem 13. Vendémiaire hatte Bonaparte zwei weitere Aides de Camp, Muiron und Marmont, doch Junot blieb sein Liebling.
In der Funktion eines Generals nahm Junot an dem Äyptenfeldzug teil. Damals musste er sich zu seinem großen Bedauern von Bonaparte trennen. Bei der Schlacht von Foli tat er sich durch wahren Heldenmut hervor, und mit einem einzigen Pistolenschuss tötete er den Anführer der gegnerischen Armee. Als Bonaparte Ägypten verließ, schrieb er ihm: