„Aber dann“, rief ich noch entsetzter als zuvor, „dann sind Sie -“
„Der Graf von Sainte-Hermine, junger Mann. Sie sehen, wie recht ich hatte, als ich sagte, dass meine Mutter gut daran getan hatte zu sterben.“
„Großer Gott!“, rief ich verzweifelt.
„Zum Glück“, sagte der Graf mit zusammengepressten Lippen, „leben meine Brüder.“‹
›O ja‹, riefen wir wie aus einem Mund, ›und wir werden seinen Tod rächen. ‹«
»Es war also Ihr Bruder, der zu seiner Hinrichtung geführt wurde?«, fragte Mademoiselle de Sourdis.
»Ja«, antwortete Hector. »Genügt Ihnen dies, oder wollen Sie erfahren, wie er starb? Die Einzelheiten, die unsere Herzen bis zum Zerspringen klopfen machten, können für jemanden, der den armen Léon nicht gekannt hat, von keinem großen Interesse sein.«
»Oh, sagen Sie mir alles, alles!«, rief Mademoiselle de Sourdis, »ersparen Sie mir nichts. War Monsieur Léon de Sainte-Hermine denn nicht mein Verwandter, und habe ich nicht das Recht, ihm bis zum Grab zu folgen?«
»Dies sagten wir auch zu Charles, der seinen Bericht fortsetzte.
›... Sie können sich denken, welche Erschütterung es für mich war, zu erfahren, dass auf diesen schönen jungen Mann in seiner Jugendblüte, der so sicheren Schrittes ging und so unbeschwert mit mir scherzte, der Tod wartete.
Zudem war er ein Landsmann von mir, Oberhaupt einer unserer vornehmsten Familien, nämlich der Graf von Sainte-Hermine.
Ich näherte mich ihm. „Gibt es kein Mittel, Sie zu retten?“, fragte ich leise.
„Ich muss gestehen, dass ich keines wüsste“, erwiderte er, „denn wüsste ich eines, ergriffe ich es, ohne zu zögern.“
„Da ich mich nicht in der glücklichen Lage sehe, Ihnen diesen Dienst zu erweisen, wäre es mir lieb, wenn ich mich von Ihnen in dem Wissen verabschieden könnte, Ihnen zu etwas nutze gewesen zu sein, dazu beigetragen zu haben, Ihnen den Tod erträglicher zu machen, Ihnen das Sterben erleichtert zu haben, wenn ich Sie schon nicht vor dem Tod bewahren konnte.“
„Seit Sie hier sind, trage ich mich mit einem Gedanken.“
„Sagen Sie ihn.“
„Es ist vielleicht nicht ganz ungefährlich, und ich fürchte, Sie könnten sich ängstigen.“
„Ich bin zu allem bereit, wenn ich Ihnen damit einen Dienst erweisen kann.“
„Ich möchte meinem Bruder Nachricht von mir zukommen lassen.“
„Ich bin bereit, sie ihm zu überbringen.“
„Es ist aber ein Brief.“
„Ich werde ihn ihm aushändigen.“
„Ich könnte ihn dem Hauptmann geben. Er ist ein wackerer Mann und würde ihn wahrscheinlich dem Empfänger überbringen lassen.“
„Bei dem Hauptmann ist es anzunehmen“, erwiderte ich, „bei mir können Sie sichergehen.“
„Dann hören Sie mir gut zu.“
Ich trat noch näher zu ihm.
„Der Brief ist schon geschrieben“, sagte er, „und in meine Polizeimütze eingenäht.“
„Gut.“
„Sie werden den Hauptmann bitten, meiner Hinrichtung beiwohnen zu dürfen.“
„Ich!“, erwiderte ich, und ich spürte, wie mir der kalte Schweiß ausbrach.
„Verschmähen Sie es nicht: Eine Hinrichtung ist immer sehenswert. Viele besuchen Hinrichtungen zum Vergnügen.“
„Nie hätte ich den Mut dazu.“
„Ach, das geht schneller, als Sie denken.“
„Niemals, niemals!“
„Lassen wir das jetzt“, sagte der Graf. „Sie werden sich damit begnügen, meinen Brüdern, wenn Sie sie zufällig sehen, zu sagen, dass Sie mir begegnet sind, als ich zur Hinrichtung geführt wurde.“
Und er begann die Melodie von Vive Henry IV zu pfeifen.
Erregt trat ich zu ihm.
„Verzeihen Sie mir“, sagte ich, „ich werde alles tun, was Sie von mir verlangen.“
„Hoppla! Sie sind ein guter Junge, ich danke Ihnen.“
„Nur...“
„Was?“
„Sie müssen den Hauptmann darum bitten, dass ich zusehe. Ich könnte es nie verwinden, wenn man glauben sollte, ich hätte aus Neugier und zum Vergnügen -“
„Gewiss, gewiss, ich werde ihn bitten, Sie als meinen Landsmann anwesend sein zu lassen; das wird er erlauben. Ich werde darum bitten, meinem Bruder etwas hinterlassen zu dürfen, was mir gehört hat, meine Mütze beispielsweise; so etwas kommt alle Tage vor; außerdem ist eine Polizeimütze nichts Verdächtiges, nicht wahr?“
„Nein.“
„In dem Augenblick, in dem ich das Feuer befehle, werde ich die Mütze fortwerfen; beeilen Sie sich nicht zu sehr, sie aufzuheben, erst wenn ich tot sein werde -“
„Oh!“, rief ich erbleichend und am ganzen Körper zitternd.
„Hat jemand einen Schluck Branntwein für meinen jungen Landsmann? “, fragte Ihr Bruder. „Ihm ist kalt.“
„Komm her, mein lieber Junge“, sagte der Hauptmann und reichte mir seine Feldflasche.
Ich nahm einen Schluck. „Danke, Hauptmann“, sagte ich.
„Gern geschehen. Einen Schluck für Sie, Citoyen Sainte-Hermine?“, rief er dem Gefangenen zu.
„Tausend Dank, Hauptmann“, erwiderte dieser, „ich trinke nie geistige Getränke.“
Ich gesellte mich wieder zu ihm.
„Und wenn ich dann tot bin“, fuhr er fort, „nehmen Sie die Mütze unauffällig an sich, als wäre es nicht weiter wichtig. Doch Sie wissen, dass mein letzter Wunsch, der Wunsch eines Sterbenden, heilig ist und dass der Brief meinem Bruder übergeben werden muss. Wenn die Mütze Ihnen beschwerlich ist, entnehmen Sie ihr den Brief und werfen Sie sie weg. Aber den Brief, den werden Sie nicht verlieren, nicht wahr?“
„Nein“, versprach ich, bemüht, meine Tränen zu unterdrücken.
„Sie werden ihn nicht aus den Augen lassen?“
„Nein, nein! Seien Sie unbesorgt!“
„Und Sie werden ihn eigenhändig meinem Bruder übergeben?“
„Ja, eigenhändig.“
„Meinem Bruder Charles, dem älteren der beiden; er hat Ihren Vornamen, das kann man sich leicht merken.“
„Ihm und niemandem sonst.“
„Setzen Sie alles daran! Nun gut! Er wird Sie ausfragen, und Sie werden ihm berichten, wie ich gestorben bin, und er wird sagen:,Nun, ich hatte einen tapferen Bruder‘, und wenn er an der Reihe sein wird, wird er sterben wie ich.“
Wir erreichten eine Weggabelung: Eine Straße führte zum Hauptquartier General Pichegrus, die andere zu dem Fort, das unser Ziel war.
Ich wollte etwas sagen, doch kein Wort drang aus meinem Mund. Bittend sah ich zu Ihrem Bruder.
Er lächelte. „Hauptmann“, sagte er, „eine Bitte.“
„Welche? Wenn es in meiner Macht steht …“
„Es ist vielleicht eine Schwäche, aber es wird ja unter uns bleiben, nicht wahr? Wenn ich sterbe, möchte ich einen Landsmann in die Arme schließen. Wir sind beide Kinder des Jura, dieser junge Mann und ich. Unsere Familien wohnen in Besançon und sind befreundet. Irgendwann wird er nach Hause zurückkehren und erzählen, wie wir einander zufällig begegnet sind und dass er mich bis zum letzten Augenblick begleitet hat.“
Der Hauptmann sah mich an; ich weinte.
„Gewiss doch!“, sagte er. „Wenn es Ihnen beiden Vergnügen bereitet! “
„Ich glaube nicht“, sagte Ihr Bruder lachend, „dass es ihm großes Vergnügen bereitet, aber mir wird es ein Vergnügen sein.“
„Wenn Sie es wünschen.“
„Sie sind einverstanden?“
„Einverstanden“, erwiderte der Hauptmann.
Ich trat zu dem Gefangenen.
„Sehen Sie“, sagte er, „bislang klappt alles ganz vorzüglich.“
Wir stiegen den Hügel hinauf, wiesen uns aus und verschwanden unter der Zugbrücke.
Im Hof warteten wir auf den Hauptmann, der dem Oberst Rapport erstattete und ihm den Befehl zur Hinrichtung überbrachte.