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Nach wenigen Minuten erschien er auf der Türschwelle.

„Bist du bereit?“, fragte er den Gefangenen.

„Wann immer es Ihnen beliebt, Hauptmann“, erwiderte dieser.

„Hast du uns noch etwas mitzuteilen?“

„Nein, aber ich habe noch eine Gunst zu erbitten.“

„Alles, was ich gewähren kann, sei dir gewährt.“

„Danke, Hauptmann.“

Der Hauptmann trat zu Ihrem Bruder. „Auch wenn wir unter verschiedenen Fahnen dienen“, sagte er, „sind wir dennoch Franzosen, und tapfere Männer erkennen einander unfehlbar. Was wünschst du?“

„Zuerst dass man mir die Fesseln abnimmt, mit denen ich aussehe wie ein Strauchdieb.“

„Du hast recht; nehmt dem Gefangenen die Fesseln ab.“

Ich stürzte mich auf die Hände des Grafen und hatte ihn entfesselt, bevor einer der Soldaten sich ihm nähern konnte.

„Oh!“, sagte der Graf, streckte die Hände aus und schüttelte sich unter seinem Mantel. „Das tut gut, wieder frei zu sein.“

„Und jetzt?“, fragte der Hauptmann. „Was wünschst du jetzt?“

„Ich will das Zeichen zum Feuern geben.“

„So wird es sein. Und was weiter?“

„Ich möchte meiner Familie ein Andenken zukommen lassen.“

„Du weißt, dass wir keine Briefe von politischen Gefangenen entgegennehmen dürfen. Alles andere ja.“

„Oh, ich will niemandem Scherereien bereiten. Hier ist mein junger Landsmann Charles, der mich zu meiner Hinrichtung begleiten wird, wie Sie es erlaubt haben, und der es übernehmen wird, meiner Familie etwas mitzubringen, keinen Brief, sondern irgendetwas, was mir gehört hat, beispielsweise meine Polizeimütze.“

„Ist das alles?“, fragte der Hauptmann.

„Meiner Treu, ja“, antwortete der Graf, „es wird Zeit. Ich bekomme allmählich kalte Füße, und kalte Füße kann ich von allen Dingen am wenigsten ausstehen. Auf, Hauptmann, denn ich nehme an, Sie werden mich begleiten.“

„Das ist meine Pflicht.“

Der Graf salutierte und drückte mir lachend die Hand, als hätte er Grund zur Freude.

„Wohin?“, fragte er.

„Hierher“, sagte der Hauptmann und trat an die Spitze des Zuges.

Wir folgten ihm, vorbei an einer Poterne, und betraten dann einen zweiten Hof, auf dessen Befestigungen Wachposten patrouillierten. Am Ende des Hofs befand sich eine hohe Mauer, in Kopfhöhe von Einschüssen zernarbt.

„Aha!“, sagte der Gefangene. Und er ging aus freien Stücken zu der Mauer, vor der er stehen blieb.

Der Gerichtsschreiber verlas das Urteil.

Ihr Bruder nickte, als wolle er die Richtigkeit des Urteils bestätigen. Dann sagte er: „Wenn es Ihnen recht ist, Hauptmann, hätte ich kurz etwas mit mir zu besprechen.“

Der Hauptmann und seine Soldaten begriffen, dass er beten wollte, und traten beiseite.

Für einen Augenblick verharrte er reglos, mit gekreuzten Armen, den Kopf zur Brust gesenkt, und bewegte die Lippen, ohne dass ein Wort zu vernehmen war.

Dann richtete er den Kopf auf: Er lächelte. Er umarmte mich, und dabei sagte er mir leise ins Ohr die Worte Karls I.: „Erinnere dich.“

Weinend nickte ich.

Dann sprach der Verurteilte mit fester Stimme: „Habt Acht!“

Die Soldaten nahmen Aufstellung.

Er nahm seine Polizeimütze ab, als wolle er nicht mit bedecktem Kopf den Befehl zum Feuern geben, warf sie in die Luft, und sie fiel neben meinen Füßen nieder.

„Seid ihr bereit?“, fragte der Graf.

„Ja“, erwiderten die Soldaten.

„Aufstellung, angelegt, Feuer! Es lebe der – “

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden; laute Schüsse waren gefallen, und sieben Kugeln hatten seine Brust durchdrungen. Er fiel mit der Stirn voran auf den Boden, und ich fiel auf die Knie und weinte so heftig, wie ich in diesem Augenblick weine.‹<  

Wahrhaftig war das arme Kind in Tränen ausgebrochen, als es uns den Tod unseres Bruders berichtete. Ach, und auch wir, Mademoiselle, das kann ich Ihnen versichern, weinten bittere Tränen. Mein Bruder Charles, der nun zum Familienoberhaupt geworden war, las den Brief ein zweites Mal, umarmte Charles, streckte den Arm aus und schwor bei der heiligen Reliquie, die uns von unserem Bruder geblieben war, ihn zu rächen.«

»Oh, was für eine traurige Geschichte, Monsieur!«, sagte Claire, die sich die Tränen abwischte.

»Soll ich fortfahren?«, fragte Hector.

»Ach, ich glaube ja«, sagte das junge Mädchen. »Noch nie habe ich etwas Fesselnderes und zugleich Schmerzlicheres gehört.«

15

Charles de Sainte-Hermine (1)

Hector de Sainte-Hermine schwieg für eine kurze Weile, damit Mademoiselle de Sourdis sich beruhigen konnte, bevor er weitersprach.

»Sie sagten: ›Was für eine traurige Geschichte.‹ Aber sie wird noch trauriger werden.

Acht Tage nach der Ankunft meines jungen Freundes in Besançon und der Lektüre des Briefs unseres Bruders Léon verschwand mein Bruder Charles.

Er hinterließ mir folgenden Brief:

Ich muss Dir nicht eigens sagen, mein lieber Junge, wo ich mich aufhalte und was ich tue.

Wie Du Dir denken kannst, bin ich mit dem Werk der Rache beschäftigt, um meinen Schwur einzulösen.

Du bist nun allein; doch Du bist sechzehn Jahre alt und hast das Unglück zum Herrn; unter solchen Umständen reift man schnell zum Mann.

Was ich unter einem Mann verstehe, weißt Du: eine unerschütterliche Eiche, die in der Antike wurzelt und deren Krone in die Zukunft reicht, ein Baum, der Hitze wie Kälte die Stirn bietet, Wind wie Regen, Sturm wie Eisen und Gold.

Ertüchtige Deinen Körper ebenso wie Deinen Geist. Werde gewandt in allen körperlichen Übungen; an Lehrern und Geld wird es Dir nicht mangeln.

Gib auf dem Land für Pferde, Gewehre, Waffen, Reitlehrer und Fechtlehrer zwölftausend Francs im Jahr aus. In Paris gib das Doppelte aus, doch stets mit dem Ziel, Dich zum Mann auszubilden.

Sorge dafür, dass Du stets zehntausend Francs in Gold bei Dir trägst, die Du dem erstbesten unbekannten Boten geben kannst, der sie im Namen und mit der Unterschrift Morgans verlangen wird, indem er Dir einen versiegelten Brief überbringt, dessen Siegel ein Dolch ist.

Nur Du wirst wissen, dass es sich bei diesem Morgan um mich handelt.

Befolge treulich die Instruktionen, die ich Dir eher als Ratschläge denn als Befehle erteile.

Lies diesen meinen Brief mindestens einmal im Monat.

Halte Dich stets bereit, meine Nachfolge anzutreten, mich zu rächen und zu sterben.

Dein Bruder

CHARLES

Und jetzt, Mademoiselle«, fuhr Hector fort, »jetzt, da Sie wissen, dass Morgan und Charles de Sainte-Hermine ein und derselbe sind, muss ich Ihnen Leben und Schicksal meines Bruders nicht mehr Schritt für Schritt nachzeichnen.

Der Ruhm des Anführers der Compagnons de Jéhu hat sich durch ganz Frankreich und sogar bis ins Ausland verbreitet. Zwei Jahre lang war das Land von Marseille bis Nantua sein Reich.

Zwei weitere Briefe habe ich von ihm erhalten, mit seinem Siegel und seiner Unterschrift versehen.

Beide Male erbat er von mir den genannten Geldbetrag, und beide Male schickte ich ihm das Geld.

Der Name Morgan flößte im Süden Frankreichs ebenso Schrecken ein wie Liebe.

Alle Royalisten betrachteten die Compagnons de Jéhu als ritterliche Kämpfer für das legitime Herrscherhaus, und beleidigende Bezeichnungen wie Banditen, Strauchdiebe oder Wegelagerer konnten ihnen nichts von diesem Nimbus rauben.