»Seien Sie mir nicht böse, wenn ich aus diesem Grund nicht allzu lange bleiben kann.«
»Auf der Kirmes haben wir ›du‹ zueinander gesagt«, entfuhr es mir, zu meinem Leidwesen in einem gekränkten Unterton.
»Richtig!« rief Witold mit unaufrichtiger Fröhlichkeit, »gut, daß du mich daran erinnerst! Also, trinken wir ein zweites Mal Bruderschaft!«
Er hob sein Glas mit dem Rest Weißwein, das er vom Eßtisch mitgenommen hatte, und sagte: »Thyra!«
Todesmutig hielt ich ihm das Gesicht entgegen. Ich spürte eine flüchtige Berührung auf der Wange, das war’s dann auch.
Witold plauderte noch eine Viertelstunde, erzählte von seinen Söhnen und der Schule; um halb elf war er weg, nicht ohne das »exquisite und deliziöse Mahl« abermals gelobt zu haben, ohne neue Verabredung, ohne mir die Möglichkeit gegeben zu haben, ihm etwas näherzukommen. Von Verführung ganz zu schweigen.
4
Trotz seiner fünfundfünfzig Jahre war der Chef immer noch ein häßlicher Mann. Er lagerte mit halbem Gesäß auf meinem Schreibtisch, was ich nicht ausstehen konnte, auch der Dieskau ließ seinen milden Bariton warnend vernehmen. Der Chef lachte aber darüber.
»Frau Hirte, in letzter Zeit werden Sie immer jünger, das ist wirklich ein Phänomen!«
Ich wartete, welche Sonderaufträge er für mich hatte.
»Wann kommt Frau Römer eigentlich aus der Kur zurück?« wollte er wissen.
»Übermorgen. Ich hole sie von der Bahn ab und bringe sie heim; natürlich will sie ihren Dieskau gleich zurückhaben.«
»Ich glaube«, überlegte der Chef, »daß Frau Römer gar nicht wieder arbeiten wird, sondern sich berenten läßt. Nach dieser schweren Operation bekommt sie bestimmt eine Rente auf zwei Jahre, und dann hat sie die Altersgrenze sowieso erreicht.
Ich denke, sie wird nicht mehr zurückkommen. Ich wollte Sie fragen, ob Sie dieses Zimmer übernehmen möchten?«
Ich freute mich, denn es war der intimste und abgelegenste Raum, man hatte darin völlig seine Ruhe und einen schönen Blick in eine Kastanie.
»Außerdem sollten Sie Urlaub machen, solange man noch irgendwo Sonne tanken kann«, fuhr er fort. Er meinte es gut, aber mir war nicht so recht nach Urlaub zumute.
Immerhin, der Chef machte sich Gedanken über mich.
Am gleichen Tag erreichte mich abends ein Anruf — es war mein früherer Berliner Freund Hartmut. Er war etwas verlegen und meinte, er sei auf der Durchreise, und wir hätten uns ja fast ein Vierteljahrhundert nicht gesehen, ob er mich zum Essen einladen dürfe. Ich war platt. Es kam sehr plötzlich, ich war eigentlich müde. Andererseits siegte dann die Neugierde, obgleich ich mir vorgenommen hatte, diesen Menschen nie wieder zu sehen. Hartmut entschuldigte sich höflich, daß er mich nicht abholen könne, er sei ohne Auto in Westdeutschland.
Eine Stunde später saß ich im Samtrock und der heraldischen Bluse in einem Nobelrestaurant und betrachtete meinen ehemaligen Freund. Ich hätte ihn nie wiedererkannt. Hartmut war zwar früher auch nicht besonders schön gewesen — er litt unter Akne —, aber er war schmal und groß und hatte ein sehr ebenmäßiges Gesicht. Groß war er zwar geblieben, doch die Gestalt war jetzt über jeden Verdacht der Unterernährung erhaben. Das ebenmäßige Gesicht war feist, rot, schwitzig und unangenehm. Mein Gott, wenn ich mit dem verheiratet wäre! dachte ich entsetzt. Eigentlich war es ein Glück, daß ich davon verschont geblieben war und jetzt die Chance hatte, einen Mann wie Witold zu lieben.
Hartmut war ganz begeistert von mir, schließlich hatte er mich nur als graue Maus gekannt. Nein, wie hübsch, elegant und jung ich wirke! Er kippte vorm Essen zwei Bier herunter, und das Schwitzen wurde stärker. Ich mußte aus meinem Leben erzählen, also bot ich ihm eine geschönte Kurzfassung an.
Als er dran war, kam das Essen. Unter heftigem Kauen, Mampfen und Schlingen berichtete er von großen beruflichen Erfolgen, viel Geld, einer Villa in Dahlem und einer großen Anwaltspraxis mit drei Partnern. Ich fragte nach der Familie.
Die beiden großen Kinder seien aus dem Haus. Relativ spät hatte seine Frau noch ein drittes, behindertes Kind bekommen.
Er sah mich trostheischend an, und ich versicherte, das tue mir leid. Hartmut schüttete jetzt ein Glas Wein nach. Schließlich sprudelte es heraus, wie unglücklich seine Ehe sei: Die Frau liebe nur dieses schwierige Kind und sonst niemanden. Sie wolle es partout nicht weggeben, und er käme total zu kurz.
Ich hätte zwar lieber gehört, daß seine Frau ihn laufend betrog, aber so war es mir auch recht.
»Ach Rosi«, seufzte er transpirierend und schnaufend, »ich habe später noch oft an dich gedacht. Es war nicht nett, wie ich mich damals verhalten habe, aber ich bin dafür gestraft worden. Vielleicht sollten wir wieder Freunde werden.«
Er widerte mich an. Ich wollte heim. Hartmut hielt meine Hand eisern fest, er war angetrunken. Schließlich bettelte er, ich solle doch bei ihm im Hotel bleiben.
Ich stand auf, entriß ihm die Hand und sagte, es wäre Zeit für mich.
Zu Hause überlegte ich, ob ich vielleicht auf Witold einen ähnlichen Eindruck gemacht haben könnte wie heute Hartmut auf mich, denn er war neulich ebenso schnell, höflich und kühl verschwunden wie jetzt ich.
Übrigens rief Hartmut am nächsten Abend von seinem Berliner Büro aus an und entschuldigte sich nach Fünfziger-Jahre-Kavaliersart, daß er sich »ein wenig vorbeibenommen« hätte; damit war für ihn alles in Butter.
»Also, bis zum nächsten Treffen«, schnarrte er in den Hörer.
Gab es einen größeren Unterschied zwischen zwei Männerstimmen, zwischen Hartmut und Witold?
Im übrigen überlegte ich hin und her, ob ich Beate nicht mein Herz ausschütten sollte.
»Sieh mal«, beschwor ich sie in Gedanken, »ich habe mich noch nie so gewaltig verliebt wie in den Engstern. Du hast doch schon alles gehabt: Freunde im Jugendalter, Heirat im passenden Alter, Kinder. Jetzt hast du einen interessanten Job, einen Freund und einen großen Bekanntenkreis. Ich hatte und habe nichts von alledem. Laß ihn mir doch, Beate! Ich habe dich noch nie um etwas gebeten, ich bitte auch andere Leute nie um etwas. Es fällt mir schwer, das zu sagen: Hab ein bißchen Erbarmen mit einer alten Jungfer, die vor Liebe brennt!«
Müßte das nicht einen Stein erweichen und schon gar die rührselige Beate?
Andererseits, wenn sie mich um das Gleiche bitten würde, niemals würde ich verzichten. Also beschloß ich, lieber den Mund zu halten. In diesem Punkt war sie eben nicht mehr meine einzige Freundin, sondern meine Rivalin, die ich bekämpfen mußte. Aber das Bedürfnis, mit ihr zu reden, hielt sich hartnäckig.
Frau Römer war wieder da, der Dieskau war weg, und ich kam mir noch blöder vor, wenn ich statt mit ihm nun laut mit mir selber sprach.
Eines Nachmittags fuhr ich unangemeldet zu Beate.
Vielleicht war es doch ein Fehler von mir, daß ich nie in der Lage gewesen war, meine Wünsche und Bedürfnisse anderen mitzuteilen. Hatte ich in jungen Jahren dem scheußlich gewordenen Hartmut je gesagt, daß ich ihn liebte, je von einer gemeinsamen Zukunft gesprochen? Ich hatte es ihm überlassen und stillschweigend vorausgesetzt, daß alles seinen richtigen Lauf nehmen würde. Auch bei dem Verhältnis mit meinem Berliner Chef hatte ich mich im Grunde ähnlich verhalten.
Überhaupt fielen mir jetzt tausend banale Fälle ein, in denen ich aus Bescheidenheit oder Feigheit zu kurz gekommen war.
Ich wollte es jetzt mal anders machen und versuchen, wenigstens ein bißchen mit Beate zu verhandeln.
Vor ihrem Haus stand Witolds Auto. Ich hielt erst gar nicht an, sondern fuhr völlig verzweifelt wieder zurück.