»Du glotzt ja so ernst in die Gegend, Rosi. Komm, trink!« forderte mich Beate auf und schenkte mir ein. Ich hatte keine Pappbecher, sondern Kristallgläser und auch Porzellanteller mitgebracht.
Beate trank ihr drittes Glas. Sie setzte sich auf die breite Brüstung.
»Komm hierher, Rosi«, sagte sie, »es ist ja ein Jammer, wenn man auf dem Boden sitzt und gar nichts von der tollen Aussicht sieht. Wenn ich hier oben bin, möchte ich mich in eine Schwalbe verwandeln und mich leicht und elegant in die Ebene hinunterschwingen.« Sie ließ die Beine nach außen hängen.
»Komm!«
Ihr etwas breiter Rücken war mir zugewendet, die noch feuchten Haare glänzten. Unter dem eingelaufenen T-Shirt zeichnete sich scharf der Büstenhalter ab.
»Ach Beate, ich stehe lieber, ich bin nicht schwindelfrei.«
»Schwindel — ich weiß gar nicht, was das ist! Schon als Kind gab es für mich nichts Schöneres als schaukeln und klettern, auf Dächer und Mauern steigen. Sieh mal!«
Wie das Kind, das sie früher gewesen war, stellte sie sich vor mich auf die Mauer und lachte mich so frech an, so wie sie früher wohl ihre Mutter zur Verzweiflung gebracht hatte.
Ein energischer Stoß mit beiden Händen gegen ihre braunen Beine, und Beate fiel mit einem ganz hohen Schrei und mit dem Sektglas in der einen, dem Hühnerbein in der anderen Hand den Turm hinunter.
Ich sah nach allen Richtungen, Menschen konnte ich nicht entdecken, hörte aber eine Motorsäge in nicht allzu weiter Entfernung. Auch ein jagender Hund schien sich in der Nähe herumzutreiben, keiner rief ihn zur Ordnung, er mochte wildern. In der Ferne die Autobahn, winzig die Wagen, von dort konnte man meinen Turm wohl kaum erkennen, geschweige denn mich. Ich begab mich nun auf den Abstieg, mir zitterten dabei die Knie, so daß es nur langsam die vielen engen Steinstufen hinabging.
Beate war wirklich tot, man brauchte nicht erst nach Puls und Atmung zu forschen. Glasig und unerhört verwundert starrten die weit offenen Augen ins Leere, allem Anschein nach war der Schädel gebrochen, die Wirbelsäule und alle Gliedmaßen. Ich konnte nicht lange hinsehen, mir wurde schlecht, und ich hatte wie damals in Witolds Haus nur den starken Trieb, schnell von diesem Ort wegzulaufen.
Aber jetzt galt es, nicht die Nerven zu verlieren. Das Weinglas war in tausend Scherben explodiert, das konnte ich niemals auflesen, es würde Stunden dauern. Aber meinen Korb mit dem Picknickzeug mußte ich auf jeden Fall mitnehmen, warum hatte ich ihn überhaupt oben auf dem Turm gelassen!
Es fiel mir schwer, wieder hinaufzusteigen. Überhaupt, wie kam ich jetzt heim ohne Wagen und mit dem ganzen Krempel?
So genau hatte ich mir das vorher nicht überlegen können. Die Sektflasche leerte ich aus viel war nicht mehr drin. Mit dem Taschentuch hielt ich sie in der linken Hand fest, mit dem Küchentuch polierte ich alle etwaigen Fingerabdrücke ab, löste auch das Etikett vom Supermarkt. Die Flasche konnte hierbleiben. Den Kaffee schüttete ich ebenfalls weg, die Flüssigkeiten würden im Waldboden sofort versickern. Beates Handtasche mit Ausweispapieren, Schlüsselbund und Portemonnaie ließ ich in einer Ecke des Turmes liegen. Aber alles andere mußte ich mitnehmen. Ich packte den Korb, legte das Tuch obenauf, suchte sorgfältig nach weiteren Indizien, fand aber nichts. Fußspuren gab es bei dem anhaltend trockenen Wetter bestimmt nicht.
Ich durfte nicht viel Zeit verlieren. Es war Mittag, kurz nach zwölf, die meisten Wanderer hielten jetzt Rast, hoffte ich. Der Weg zu Fuß bis zu meinem Wagen war weit, oder sollte ich einfach den von Beate nehmen? Wenn man ihn später fand, könnte man immerhin in Betracht ziehen, daß es sich um Selbstmord oder Unfall handelte. Wenn aber kein Wagen hier stand, mußte auf alle Fälle eine zweite Person im Spiel sein.
Ich schaute in Beates Auto, aber es waren keine Gegenstände von mir liegengeblieben. Fingerabdrücke? Nun, die konnten ja ganz legal dort sein, schließlich war ich schon oft mit ihr unterwegs gewesen.
Ich traute mich nicht, den breiten Holzabfuhrweg zu nehmen, sondern kroch durch Dickicht und Gestrüpp, wobei ich einmal völlig die Richtung verlor. Jedenfalls war bergab richtig. Es war gut, daß ich mich versteckt hielt, denn schon bald lief eine größere Gruppe des Odenwaldvereins an mir vorbei. Ich legte mich wie ein Trapper auf den Waldboden und sah dicht an mir rote Strümpfe und Kniebundhosen in großer Anzahl vorbeidefilieren.
Zum Glück hatte ich robuste Schuhe an, aber den Korb verfluchte ich und hätte ihn gern irgendwo stehenlassen, aber natürlich ging das nicht. Wie lange waren wir eigentlich mit dem Auto gefahren? Nicht besonders lang, schien mir, aber zu Fuß zog sich die Strecke ganz schön hin. Bald mußte ich auf die Straße kommen, und wie sah ich aus! Tannennadeln und Spinnweb im Haar, struppig und zerkratzt. Ich machte Pause und begann Moos, Zweige, Kletten und Nadeln sorgfältig abzulesen.
Ich lief nicht auf der B 3, sondern schlug mich parallel dazu durch Maisfelder und Schreberanlagen. Immer wieder traf ich Hobbygärtner, die den sonnigen Herbsttag nutzten, um ihre Äpfel zu pflücken und ihr Stückchen Erde umzugraben. Eine große Türkenfamilie saß unter einem Nußbaum und tafelte, sie grüßten freundlich. Würden mich alle diese Menschen wiedererkennen? Ein Alibi für die Tatzeit hatte ich nicht; aber auch an den unzähligen Wochenenden, die ich einsam in meiner Wohnung verbrachte, hätte ich kaum einen Zeugen für mein Zuhausesein gehabt. Oder etwa doch? Mein Auto auf der Straße? Inwieweit würde von meinen Nachbarn registriert, ob es dort stand oder nicht? Ich kam nach ungefähr zweieinhalb Stunden in Beates Wohnort an, mindestens zwanzig Menschen hatten mich unterwegs gesehen, allerdings war niemand darunter, der mich kannte. Wenn allerdings mein Foto veröffentlicht würde, könnten sie sich möglicherweise doch an mich erinnern.
Endlich war ich bei meinem Wagen, um halb vier war ich zu Hause. Ich gönnte mir keine Ruhe, bevor ich nicht mein Glas, die beiden Teller und die Thermoskanne gespült und weggeräumt hatte, den Korb verstaut, den Revolver versteckt, alle Essensreste vernichtet hatte. Dann ging ich unter die Brause und füllte die Waschmaschine mit der Kleidung des heutigen Tages, vorsichtshalber auch noch mit anderer Wäsche, die zu waschen war.
Als das alles erledigt war, fühlte ich mich ein wenig erleichtert.
Um neun Uhr abends ging das Telefon, ich hatte so etwas erwartet. Ich ließ es ein paarmal läuten. Lessi war daran.
»Hast du eine Ahnung, wo meine Mutter ist?«
Ich verneinte, fragte, warum.
»Weißt du, Rosi«, Lessis Stimme hatte den gleichen Tonfall wie die ihrer Mutter, »ich war mit Beate verabredet. Wir wollten zu Richard nach Darmstadt fahren und ins Theater gehen. Aber sie ist überhaupt nicht hier, auch ihr Auto fehlt.
Ich finde das irgendwie komisch, denn sie hat den Theaterbesuch in ihrem Terminkalender eingetragen. Ich vergesse so was ja manchmal, aber sie verschlampt eigentlich nichts.«
Ich war nicht imstande, Lessi zu beruhigen, versicherte nur, ich hätte keine Ahnung, und es würde sich sicher alles aufklären. An diesem Tag rief niemand mehr an.
In der Nacht wurde ich krank. Ich bekam Fieber, Erbrechen und Durchfall, konnte weder schlafen noch die Beruhigungstabletten mitsamt dem Kamillentee bei mir behalten. Ich wanderte vom Bett ins Klo und in die Küche, fror und schwitzte gleichzeitig und wußte, daß mein Organismus der psychischen Belastung nicht standhielt.
Am Sonntag wurde es nicht besser. Ich versuchte mir vorzustellen, daß ich ein Recht auf Glück und Liebe hätte und deswegen so hatte handeln müssen. Aber diese Theorie kam mir sehr fragwürdig vor. Beate! Ich trauerte um Beate, ich weinte und fieberte um meine einzige Freundin, ich sah sie zerschmettert auf dem steinigen Waldboden liegen. Ich hatte etwas getan, das ich nie wieder rückgängig machen konnte. Bei Hilke Engstern hatte ich kaum Gewissensbisse empfunden, aber bei Beate wurde ich fast wahnsinnig.