Außerdem hatte ich grauenhafte Angst. Ich konnte mich im Augenblick überhaupt nicht zusammennehmen; wenn irgend jemand käme, der auch nur den geringsten Verdacht hätte, mein Verhalten würde ihm sofort rechtgeben.
Montag morgen ging es immer noch nicht besser; ich rief im Büro an und meldete mich krank. Eine Darmgrippe, gab ich an.
Man wünschte mir gute Besserung, und ich sollte bloß nicht zu früh wieder aufstehen und im Betrieb erscheinen, bei meinem ehernen Pflichtbewußtsein müßte man das mal betonen.
Ob es richtig wäre, ganz beiläufig bei Beate anzurufen, nach ihr zu fragen? Erstens, um zu zeigen, daß ich fest mit ihrer Anwesenheit gerechnet hatte, zweitens um zu erfahren, ob man sie gefunden hatte und ob Ermittlungen angelaufen waren.
Aber ich konnte nicht anrufen, nicht sprechen, nicht weinen, nur weiterhin mit den Zähnen klappern und mich übergeben.
Meine Bürokleidung ist immer tipptopp. Auch alle anderen Sachen, die ich für meine Auftritte außerhalb meiner vier Wände anziehe, sind gepflegt und ordentlich. Wenn ich aber in meinem einsamen Bett liege, brauche ich auf keinen Rücksicht zu nehmen. Meine Nachthemden sind, ich gebe es zu, alt, lumpig und überaus gemütlich, was kein Grund für mich ist, sie in den Rotkreuzsack zu stecken. Als ich zur Kur mußte, habe ich mir zwei neue Schlafanzüge gekauft, die seitdem im Schrank liegen und auf eine Chance warten. Könnte sein, ich müßte mal ins Krankenhaus, dann würde ich darauf zurückgreifen.
An jenem Montag, am späten Nachmittag, hing ich also krank und welk in meinem ältesten Blümchenhemd mit den bräunlich versengten Bügelflecken im Sofa und blätterte im Fernsehprogramm. Ich las immer wieder die gleiche Stelle, ohne auch nur ein Wort im Kopf aufzunehmen. Da schellte es!
Nicht aufmachen! war mein erster Gedanke. Und weiter: So häßlich, wie ich im Augenblick bin, sollte mich keine Menschenseele zu Gesicht bekommen! Aber es fiel mir ein, daß ich mich offiziell krank gemeldet hatte; es war immerhin möglich, daß der Chef den eiligen Vorgang auf meinem Schreibtisch einer Kollegin in die Hand gedrückt hatte und sie Fragen dazu stellen wollte. Aber hätte sie dann nicht angerufen? Oder war es der Chef selbst? Ausgeschlossen; ich fehlte schließlich nie, beim ersten kranken Tag brauchte er mich weder zu kontrollieren noch mir Blumen zu bringen. Also dann die Polizei.
Ich fuhr in einen räudigen Bademantel und schlappte, kalten Schweiß auf der Stirn und übel aus dem Halse riechend, an die Wohnungstür. Ich drückte auf den Knopf und machte auf.
Witold stand direkt vor mir, die Haustür war unten nicht verschlossen gewesen.
»Mein Gott, Thyra, du siehst ja elend aus!« rief er. »Ich habe in deinem Büro angerufen und gehört, daß du krank bist. Du mußt schon entschuldigen, daß ich so hereinplatze, noch dazu, wo es dir offensichtlich schlecht geht.«
Ich wies mit der Hand ins Wohnzimmer und ahnte, daß sein Kommen nichts Gutes bedeutete.
Er kam rein und warf einen hurtigen Blick durch den Raum.
»Thyra, setz dich hin, du siehst sehr fiebrig aus. Soll ich dir einen Tee kochen?«
Wie wunderbar wäre es gewesen, wenn ich sein Kommen geahnt hätte. Dann wäre ich in den lasziven seidenen Schlafanzug, der an alte Greta-Garbo-Filme erinnert, geschlüpft, hätte gebadet und die klebrigen Haare gewaschen und mindestens zehn Minuten lang die Zähne geputzt.
Ich ließ mich aufs Sofa fallen und sah ihn mit meinen roten Augen an. Witold blieb weiter so fürsorglich.
»Du wunderst dich sicher, daß ich so unangemeldet hereinschneie. Leider muß ich dir etwas sehr Trauriges mitteilen, das ich nicht am Telefon sagen wollte.«
»Was denn?« wollte ich herausbringen, aber es war wohl gar nicht zu hören.
»Deine Freundin Beate ist verunglückt«, sagte er mit sanftester Frauenarzt-Stimme.
Ich wurde immer blasser, kein Wort kam aus meiner Kehle, ich wünschte mir, ohnmächtig zu werden, aber trotz der Schwärze vor meinen Augen wollte es mir nicht gelingen.
Witold kniete vor dem Sofa, fühlte meinen Puls, eilte ins Bad und holte einen naßkalten Waschlappen, den er mir unerbittlich auf die Stirn tropfen ließ. Nur nicht den Mund öffnen, ich habe doch vor kurzem erbrochen, dachte ich.
»Ich Idiot«, schalt sich Witold, »ich hätte dir das bei deinem hohen Fieber gar nicht sagen dürfen«, er lief in die Küche und holte ein Glas Wasser.
Ich nippte daran und hoffte, daß er sich zwei Meter von mir entfernen würde, was er schließlich auch tat, als die Farbe ein wenig in mein Gesicht zurückkehrte.
Sicher erwartete er, daß ich Fragen stellte.
»Ist sie tot?« hauchte ich.
Witold nickte.
»Auto?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich erzähle es dir ein andermal«, wich er aus.
»Nein, ich will jetzt alles wissen«, sagte ich, denn so mußte man reagieren.
»Am Samstag rief mich Lessi an, ob ich wüßte, wo ihre Mutter ist. Dich hat sie sicher auch angerufen, denn sie hat das ganze Adreßbüchlein von Beate durchtelefoniert. Nun, die Kinder waren wohl am Sonntag alle zu Hause und überlegten, ob sie die Polizei benachrichtigen sollten. Das erübrigte sich, weil die Kripo mit der schrecklichen Nachricht ins Haus kam.
Man hat Beate im Wald gefunden, sie ist von einem Aussichtsturm gestürzt.«
»Wie ist das passie rt?«
Witold griff nach einer Zigarette, sah mein leidendes Gesicht und steckte sie wieder weg. Er zögerte.
»Es ist nicht genau zu rekonstruieren. Beate war offensichtlich am Samstag vormittag einkaufen gewesen und dann schwimmen. In ihrem Wagen, der in der Nähe des Turms stand, wurden ihre Badesachen und der Wochenendeinkauf gefunden. Warum sie aber dorthin gefahren ist, bleibt ein Rätsel. Eine leere Flasche Sekt und Splitter von einem Glas lagen herum, aber das könnte auch von anderen Leuten stammen. Die Frage ist nun, ob sich Beate an diesem Ort mit jemandem verabredet oder sogar getroffen hat. Ich wollte dich fragen, Thyra, litt Beate unter Depressionen?«
Jeder, der Beate gekannt hatte, wußte, daß das nicht so war.
Ich überlegte ein wenig.
»Nicht, daß ich wüßte«, antwortete ich, »aber die Wechseljahre machen allen Frauen zu schaffen.« Sofort ärgerte ich mich über meine letzten Worte, denn Witold wußte, daß Beate und ich gleich alt waren.
»Die Polizei ermittelt gerade, ob Beate vielleicht an diesem Tag irgendeine schlimme Nachricht erfahren hat. Sie überprüfen vor allem ihren Freund. Ach, ich finde diese Sache so schrecklich, weil es mich wieder an den Tod von Hilke erinnert.«
Ich sah Witold scharf an. War er überhaupt traurig über Hilkes und Beates Tod, oder tat er sich nur selbst leid? Die Sache mit Beate schien ihn nicht allzu tief getroffen zu haben, denn sonst wäre er wohl wieder in die Einsamkeit geflüchtet, statt es mir als Sensation zu erzählen.
»Kann ich noch irgend etwas für dich tun?« fragte er, »einkaufen, Tee kochen, Samariter spielen, Trost spenden?«
Ich nahm ihn beim Wort, obgleich ich wußte, daß er nicht damit rechnete.
»Ich habe gar keinen Saft mehr im Haus, und bei einer Darmgrippe soll man ja viel trinken. Könntest du mir vielleicht morgen ein paar Flaschen besorgen?«
Witold machte sofort einen kleinen Rückzieher.
»Bei solchen Krankheiten ist Saft gar nicht gut, du solltest eher viel Tee trinken.«
Ich seufzte, daß gerade der Tee einen Würgereiz bei mir auslöse. Aus alter Erfahrung wisse ich, daß Cola gut bei Erbrechen sei.
Nun lächelte er mich an, daß mir das Herz zerschmolz.
»Na gut, morgen bring’ ich dir Saft und Cola. Aber jetzt muß ich weg, ich will Beates Kindern etwas zur Seite stehen. — Nicht aufstehen!« Er drückte mich sanft an der Schulter wieder zurück in meine Kissen und verschwand.
Mir ging es schlagartig besser, die schrecklichen Vorstellungen verblaßten, und ein hoffnungsvolles Bild tauchte vor mir auf: Morgen kommt er wieder und lächelt mich an.
Alles wird noch gut, ich muß bloß stark bleiben und durchhalten.