Nun wurde Beate halbtags Sekretärin in der Volkshochschule, anfangs nur aushilfsweise. Nach zwei Jahren schmiß sie den Laden und ging ganz in ihrem neuen Beruf auf. Beate begeisterte sich für immer neue Kurse, an denen sie kostenlos teilnehmen konnte. Sie begann mit Töpfern und Seidenmalerei, fuhr fort mit Bauchtanz und transzendentaler Meditation, lernte Italienisch und diskutierte mit anderen Frauen über ihre Stellung in der Gesellschaft.
Außer von Beate bekam ich fast nie Besuch. Meine Wohnung war auch zu klein, um viele Leute aufzunehmen.
Beate besuchte mich manchmal unangemeldet, und ich hatte auch nichts dagegen. Eine zweite Ausnahme war eine ältere Kollegin, Frau Römer. Sie stand kurz vor dem Rentenantritt und arbeitete schon seit einer Ewigkeit in unserem Betrieb.
Frau Römer wußte alles, kannte jeden und genoß allerhand Privilegien: Sie hatte ein gemütliches Einzelzimmer, was eigentlich von ihrer Arbeit her nicht gerechtfertigt war, und durfte außerdem ihren alten Hund mitbringen. Als vor Jahren ihre Tochter heiratete und wegzog, kriegte Frau Römer zum ersten und einzigen Mal einen Rappel, weil der Hund, nach dem bisher die Tochter gesehen hatte, nicht den ganzen Tag allein bleiben konnte.
Sie müsse den Hund also abschaffen, lamentierte sie, denn sie wohne zu weit, um mittags heimzugehen (ein Auto hatte sie nicht) und den Hund auszuführen. Schließlich war sie so fertig, daß abwechselnd alle Kolleginnen und Kollegen beim Chef vorstellig wurden und ihn mit Frau Römers Hund nervten.
Probeweise durfte sie ihn mitnehmen; er war alt, dick und faul, lag unter ihrem Schreibtisch und muckste nicht. Der Chef hatte aber eindringlich an alle appelliert, daß dies ein Einzelfall bleiben müsse.
Frau Römer hatte noch eine Besonderheit: eine uneheliche Tochter. In ihrer Generation war ein Fehltritt mit Folgen katastrophal, und sie hatte mir erzählt, daß sie vom Vater damals regelrecht verstoßen worden war. Erst als er starb, hatte die Mutter gewagt, wieder mit ihr Kontakt aufzunehmen. Über den Vater ihrer Tochter sprach Frau Römer nie; wenn man sie auf Betriebsfeiern, wenn sich die Stimmung gelockert hatte, danach fragte, meinte sie nur, das sei eine lange Geschichte, aber sie wolle sie nicht erzählen. Auch mir sagte sie nie etwas darüber, obgleich wir mit der Zeit ganz vertraut und beinahe befreundet waren. Eines Tages hatte sie nämlich wieder ein Problem mit dem Hund. Ich bot ihr spontan an, ihren Liebling gelegentlich bei mir zu lassen. Im Grunde mag ich keine Tiere, habe sogar etwas Angst vor Hunden — aber diesen alten Kerl kannte ich ja vom Büro her zur Genüge, und ich traute mir schon zu, ein Wochenende mit ihm zu verbringen. Frau Römer war überglücklich. Alle vier Wochen fuhr sie also ohne Hund davon, und ich hatte dann den dicken Spaniel unterm Bett. Mit der Zeit entwickelte sich sogar eine freundschaftliche Beziehung zwischen uns, und ich ertappte mich, daß ich ekelhafterweise in Babysprache auf ihn einredete.
Irgendwie bewunderte ich Frau Römer, die damals ein uneheliches Kind bekommen hatte. Ich hatte in jungen Jahren, noch vor der Pillenära, zwar immer in Angst vor einer möglichen Schwangerschaft gelebt, aber heute, wo ich keine Kinder mehr kriegen kann, bedauere ich das. Ja, fast tut es mir leid, nicht wie so viele Frauen wenigstens eine Abtreibung oder Fehlgeburt durchgemacht zu haben, denn selbst so ein Negativerlebnis hätte mich doch einige Wochen Schwangerschaft erfahren lassen. In meinem Leben als Frau fehlt das ganz. Und meine Männergeschichten waren auch nicht gerade erfreulich. Die Hartmut-Story hatte eine eiternde Wunde hinterlassen. Die Sache mit dem Berliner Chef war ebenfalls nicht wohltuend gewesen, fast war es erniedrigend, daran zurückzudenken. Später habe ich nie mehr etwas mit Kollegen gehabt, weil ich diesem Klatsch und Tratsch nicht ausgesetzt sein wollte. Ich gelte in der Firma als sehr anständig, man hat Respekt vor mir, sogar Vertrauen. Im Urlaub habe ich in früheren Jahren öfters einen Mann kennengelernt, aber das letzte derartige Abenteuer liegt nun auch schon fünf Jahre zurück und hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Nun war ich wahrscheinlich zu alt für die Liebe und mußte dieses Kapitel mit einem gewaltigen Defizit abschließen.
Frau Römer und Beate waren also meine einzigen Besucherinnen. Meine Wohnung ist eng, ordentlich und vielleicht ein bißchen unpersönlich. Ich bin kein kreativer Mensch. Aus Musik, Theater, Malerei und so weiter mache ich mir leider gar nichts. Lesen tue ich natürlich schon, aber mir sind ein Sachbuch, eine Wirtschaftszeitung oder ein Kriminalroman lieber als die sogenannte Literatur. Beate wollte manchmal in mein Leben eingreifen, sie fand meine Kleidung, meine Möbel, meinen Geschmack insgesamt viel zu langweilig. Dabei spielen Geschmacksfragen in meinem Leben eine unendlich wichtige Rolle, nur bin ich unfähig, meine ausgefallenen Vorstellungen auf mich selbst anzuwenden.
Bei Beate sieht es natürlich ganz anders aus als bei mir, ziemlich chaotisch. Mir würden die vielen Trockensträuße auf den Geist gehen, die poppigen Plakate, der selbstgebastelte Kram. Ich finde meinerseits, daß sich Beate zu jugendlich anzieht. Ich halte es für würdiger, zu meinem Alter zu stehen.
Aber wir sind trotzdem gute Freundinnen, ich im grauen Tweedrock mit elfenbeinfarbener Seidenbluse, Perlenkette und Twinset — Grace-Kelly-Look, sagt Beate —, sie mit ihren verrückten Reithosen und den bunten Westen. Meine Möbeclass="underline" schwarz und weiß, japanisch streng und zeitlos, von bester Qualität; die ihren: immer wieder anders, mal Ikea — alles Naturholz —, dann selbstangestrichen in Gold und Violett. Beate will mich auch sonst zu ihrem way of life bekehren. Sie schleppt mich gern mit, lädt mich zu ihren Partys ein, will mich immer wieder zu ihren geliebten Volkshochschulkursen anwerben. Ich versprach ihr, hin und wieder zu einem Einzelvortrag mitzukommen.
Schließlich, nach längerer Pause, beschlossen wir, einen Vortrag über die Lyrik der Befreiungskriege zu besuchen. Es fing um zwanzig Uhr an, und ich war pünktlich um halb acht bei Beate. Schon auf der Treppe hörte ich das verstimmte Klavier, das eines ihrer Kinder zurückgelassen hatte. Beate machte auf. »Heidi, Heidi, deine Welt sind die Berge«, erklang es durchdringend. Die jüngste Tochter hatte Semesterferien, eine für mein Gefühl reichlich infantile Zwanzigjährige. Beate machte ein seltsames Gesicht. »Du, ich werde Großmutter!«
Ich trat ein und sah die singende Lenore am Klavier. Ich schaute Beate fragend an. Sie nickte: »Ja, Lessi ist schwanger!«
Mir entfuhr es entsetzt: »Aber da kann man doch noch etwas machen!«
Lessi schnellte herum und sagte einstimmig mit ihrer Mutter:
»Wie bitte?«
Die beiden dachten gar nicht an eine Unterbrechung, sondern schienen sich zu freuen. Dabei stimmte in Lessis Leben noch gar nichts: kein fester Freund, am Anfang der Ausbildung zur Sportlehrerin und grün bis hinter beide Ohren. Ich ärgerte mich über die Unvernunft, aber irgendwo war auch Neid auf diese beiden Unschuldslämmer.
»Sei mir nicht böse«, sagte Beate, »ich habe diese Neuigkeit erst vor zehn Minuten erfahren, ich kann jetzt nicht weggehen.
Sei so lieb, geh allein und erzähl mir morgen, wie es war!«
Ich machte, daß ich fortkam, am liebsten wäre ich gleich wieder heimgefahren. Eigentlich wollte ich doch nur Beate zuliebe dieses Literaturgeschwätz anhören. Wenn ich damals sofort nach Hause gefahren wäre, hätte sich das Schicksal von einigen Menschen auf andere Weise erfüllt.