Nach zwei durchwachten Nächten fiel ich in einen langen Schlaf der Erschöpfung.
5
Um elf Uhr wurde ich wach und zwang mich, reichlich Tee — der mir guttat — und eine Scheibe Toast zu mir zu nehmen. Ich mußte heute häufig eine Kleinigkeit essen, um nicht diesen sauren Geruch aus leerem Magen auszuströmen. Dann badete ich, wusch mir die Haare und fönte sie. Vormittags konnte Witold nicht kommen, da mußte er unterrichten. Aber ob er nun gleich nach dem Mittagessen oder erst später kam, da konnte ich nur spekulieren. Im seidenen Pyjama wartete ich ab zwei Uhr nachmittags, räumte die Teetasse weg, holte sie wieder heraus, putzte mir erneut die Zähne. Um sechs war ich reichlich nervös. Da rief endlich Witold an; er will sich drücken, dachte ich.
»Na, Rosemarie Luise Thyra, geht’s heute besser?« fragte er.
»Kaum«, flüsterte ich.
»Also dann komme ich noch geschwind vorbei; ich hatte eine Menge um die Ohren heute, es dauert noch eine kleine Weile.«
Wieder eilte ich zum Spiegel. Rosmarie, stellte ich fest, du bist zu dünn. Männer mögen Busen, und wo ist deiner?
Aber ich sah nicht mehr so abstoßend aus wie gestern, vielleicht hatte ich eine Chance, wohlwollend betrachtet zu werden.
Um acht kam er schließlich, rief schon auf der Treppe mit künstlicher Munterkeit: »Essen auf Rädern!« und registrierte nicht, daß ich heute kein Häufchen Elend mehr war. Er trug eine Plastiktüte in die Küche und packte Apfelsaft, Cola und Zwieback aus.
»Und für die leidende Seele«, sagte er und kramte aus der Jackentasche eine Musikkassette, »unerhört schön traurige Musik. Brahmslieder. Als es mir so schlecht ging, habe ich sie dauernd abgespielt. Meine persönliche Therapie geht so: Tränen über fremdes Leid vergießen, wenn man von der eigenen Trauer versteinert ist.«
Ich dankte ihm. Tränen hatte ich schon genug über eigenes Leid vergossen. Solche Musik würde mir voraussichtlich nicht die Bohne gefallen, aber woher sollte Witold das wissen?
»Komm«, sagte er, »steh nicht in der Küche herum, leg dich aufs Sofa. Ich bleib’ noch ein paar Minuten bei dir.«
In meinem seidenen Nachtanzug lagerte ich mich malerisch, mindestens wie Goethe in der Campagna.
»Ich sah gestern schrecklich aus, du mußt dich vor mir geekelt haben«, murmelte ich.
»Je nun, so sieht jeder aus, wenn es ihm schlecht geht.«
Witold schien wirklich wenig Aufmerksamkeit auf mein Äußeres zu verschwenden.
»Weißt du, es ist auch für mich schlimm, daß Beate tot ist«, begann er auf einmal.
Mußte ich mir das anhören? Ja, ich mußte.
»Thyra, du bist eine treue Seele, ich will dir was beichten: Ich habe mich verliebt.«
Ich blieb gelassen, so gut es ging, schließlich hatte ich das ja mehr oder weniger gewußt. Aber wie sollte ich mich dazu äußern.
»Auch ich habe Beate geliebt«, sagte ich leise, es war nicht gelogen.
»Sie war schon toll«, sagte Witold, »diese wunderbare Tochter hatte eine wunderbare Mutter.«
Ich verstand ihn nicht. »Wer, Lessi?«
»Nein doch! Lessi mag ein nettes Mädchen sein, aber ich hätte mich nimmermehr in sie verliebt. Ich meine natürlich Vivian!«
Ich starrte ihn mit aufgerissenen Augen an.
Witold lachte. »Ja, Thyra, so ist es. Ich bin in Vivian verliebt. Durch dich habe ich Beate kennengelernt und bei ihr wiederum ihre hinreißende Tochter.«
Ich stotterte: »Vivian ist doch fast noch ein Kind!«
»Aber ich bitte dich«, Witold fühlte sich angegriffen und reagierte gereizt, »sie ist eine schöne junge Frau von sechsundzwanzig Jahren, und an Reife kann sie es mit so manchem aus meinem Jahrgang aufnehmen.«
Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Beate, ich habe dich völlig umsonst umgebracht.
Witold sah mich etwas bestürzt an. »Ja«, meinte er, »du bist fix und fertig, und ich schwatze da von Verliebtsein.
Wahrscheinlich findest du es auch völlig geschmacklos, daß ich kurze Zeit nach Hilkes Tod so empfinden kann. Ich wollte deswegen auch nicht, daß es irgend jemand erfährt, aber du weißt ja sowieso mehr von mir als alle meine Freunde, dich wollte ich einweihen.«
Unter Schluchzen fragte ich: »Wußte das Beate?«
»Vivian wollte es ihr anfangs nicht sagen, sie hatte Befürchtungen, ihre Mutter würde es nicht gutheißen, weil ich ja einige Jährchen älter bin. Beate hat ihre Kinder nie ausgefragt, aber vielleicht hat sie etwas geahnt, weil Vivian immer, wenn sie zu Hause zu Besuch war, das Auto ihrer Mutter auslieh und mich besuchen kam. Na, jedenfalls hat Vivian ihrer Mutter einen Tag vor dem Unfall alles erzählt.«
Es war entsetzlich. Aber mitten im Geflenne kam mir eine geniale Idee.
»Ach Witold, weißt du denn nicht, daß Beate selbst in dich verliebt war?«
Jetzt fiel ihm der Unterkiefer herunter.
»Nein, das glaube ich nie! Hat sie dir das etwa gesagt?«
»Ja, sie hat es mir anvertraut. Sie dachte wahrscheinlich, daß deine Besuche ihr galten.«
Witold starrte mich an. Ihm ging einiges durch den Kopf.
»Es muß Beate tief getroffen haben«, setzte ich meine Gedankengänge unbarmherzig fort, »als Vivian ihr von eurer Beziehung erzählt hat.«
»Um Gottes willen!« entsetzte sich Witold. »Du meinst doch nicht, daß sie sich meinetwegen umgebracht hat?«
Ich schwieg, zuckte mit den Schultern. Witold war ein Narziß, es leuchtete ihm sofort ein, daß man aus unglücklicher Liebe zu ihm von einem Turm springt.
»Thyra, ich beschwöre dich!« sagte er erregt und ergriff meine Hand, »das darfst du nie im Leben Vivian sagen! Sie ist ein überaus empfindsamer Mensch, sie würde sich für den Tod ihrer Mutter verantwortlich fühlen!«
»Nein, ich sage ihr natürlich nichts. Aber wenn mich die Polizei ausfragt, kann ich es auch nicht verschweigen.
Immerhin ist es ein denkbares Motiv.«
Witold sah auf meinen blauen Teppich und grübelte.
»Daß ich gar nichts davon gemerkt habe! Aber doch — im nachhinein ist mir, als wäre ich blind gewesen! Natürlich, mir fallen jetzt Situationen ein, wo sie mich so seltsam angesehen hat. Ach, wir Männer sind so unsensible Wesen!«
Das Telefon klingelte. Es war Vivian.
»Hallo Rosi«, sagte sie, in ihrer leicht arroganten Art, »falls Rainer noch bei dir ist, möchte ich ihn sprechen.«
Ich gab Witold den Hörer. Er sagte ein paarmal »ja« und »nein« und schließlich: »Dann eben morgen. Paß auf dich auf und gute Nacht.«
Er schien sich mir gegenüber für diesen Anruf rechtfertigen zu wollen. Eigentlich hätte er vorgehabt, heute nachmittag zu ihr zu fahren, aber die ganze Zeit über seien so viele Verwandte dagewesen: Beates Vater, ihre zwei Schwestern und zwei Brüder. Er hätte nun Vivian abends abholen wollen, damit sie ein bißchen an die frische Luft käme. Aber nun sei auch der Architekt, Beates Exmann da; die Kinder sollten alle drei mit ihm die Todesanzeige aufsetzen.
»Na, dann kann ich auch noch ein paar Minuten hierbleiben«, schloß Witold. »Übrigens, ehe ich es vergesse, die Beerdigung wird am Freitag sein, bis dahin bist du wieder auf den Beinen«. Ich wäre lieber noch lange krank gewesen, aber zur Beerdigung mußte ich wohl oder übel hinfahren.
Witold fragte plötzlich: »Wo warst du eigentlich am Samstag?«
Ich hatte mir schon lange eine Antwort zurechtgelegt, allerdings hatte ich erwartet, daß nicht er, sondern die Polizei diese Frage stellen würde.
»Ach, da fing diese blöde Krankheit doch an. Mir ging es schon am frühen Morgen nicht gut, ich habe mit Müh und Not ein paar Lebensmittel besorgt, mich aber gleich wieder ins Bett gelegt. Warum fragst du?«
»Ach, vergiß es. Mir ging gerade durch den Kopf, wie seltsam es ist, daß zwei Frauen innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne sterben und wir in beide Fälle irgendwie verstrickt sind, du und ich. Es gibt schon merkwürdige Zufälle.«
Ich nickte und lehnte mich ermattet zurück. Witold hielt das für ein Zeichen, daß er aufbrechen müsse, damit ich, die Patientin, zur Ruhe käme.
»Ich ruf dich morgen an«, versprach er mit einer gewissen Herzlichkeit und trat ab.