Bevor er kam, bevor ich ihn traf, war ich immer in Hochform. Ich malte mir unsere Begegnungen aus: voll Seelenverwandtschaft, Liebe und erotischer Spannung. Wenn’s dann vorbei war, blieben Enttäuschung und Zweifel. War er überhaupt so einmalig? Wünschte ich ihn wirklich so glühend als Liebhaber?
Ein Glück, daß ich den Revolver nicht benutzt hatte. Man hätte schnell herausgefunden, daß es die gleiche Waffe war, mit der Hilke Engstern erschossen worden war. Zumindest Witold konnte dann zwei und zwei zusammenzählen, denn ich war ja als letzte im Besitz des Revolvers gewesen. Ich durfte ihn auf keinen Fall je wieder gebrauchen, mußte ihn schleunigst beseitigen. Dumpf brütete ich vor mich hin: Wenn man mich als zweifache Mörderin entlarven würde, dann bliebe mir immerhin noch die Möglichkeit, mich selbst zu erschießen.
Diese apokalyptischen Gedanken machten mich wohltuend unglücklich. Witold liebte Vivian, und ich hatte meine beste Freundin umgebracht. Was sollte das alles noch. Leise sagte ich: »Rosi, erschieß dich lieber gleich.«
Da fiel mein Blick auf Witolds Kassette mit den Brahmsliedern. »Für die kranke Seele«, oder so ähnlich hatte er gesagt. Ich legte die Musik in den Recorder, vielleicht enthielt sie ja eine versteckte Botschaft. Am Ende waren es gar keine Brahmslieder, und Witold hatte die Kassette für mich besprochen: eine Liebesbotschaft für mich.
Nun hörte ich das Lied von der Jungfrau, die ihr Hochzeitskränzlein aus Rosen winden wollte. — Nein, das war kein Thema für mich!
»Sie ging im Grünen her und hin, statt Rosen fand sie Rosmarin.«
Oder war es doch eine geheime Nachricht, denn Rosmarie war ja ich? Nun kam der Schluß:
»Sie ging im Garten her und hin, statt Röslein brach sie Rosmarin. ›Das nimm du, mein Getreuer, hin! Lieg bei dir unter Linden, mein Totenkränzlein schön!‹«
Jetzt stellte ich die Musik ab und weinte hemmungslos.
Witold, ich bin keine Rose, ich bin nur Rosmarin, und ich werde auch nie einen Rosenkranz zur Hochzeit tragen, sondern ein Totenkränzlein schön.
Irgendwann in der Nacht verließ ich das Sofa, zog den Seidenpyjama aus und das hoffnungslos Geblümte an und legte mich ins Bett. Am nächsten Morgen ging ich zum Arzt und ließ mich für die ganze Woche krankschreiben. Als ich wieder zurückkam, stand ein Polizist vor der Tür, der gerade im Begriff war, wieder zu gehen. Er wollte meinen Namen wissen und war erleichtert, daß er nun nicht ein zweites Mal kommen müsse. Mir fiel mit Entsetzen der Revolver im Koffer ein.
Auf dem Weg treppauf erzählte er, daß er erst bei mir zu Hause angerufen habe und dann im Büro, wo er gehört habe, daß ich krank sei und daß er mich wahrscheinlich in meiner Wohnung anträfe. Ich hielt ihm die gelbe Krankmeldung hin.
Er lächelte: »Ist doch klar, man muß zum Arzt, wenn man krank ist. Es dauert auch nur fünf Minuten, dann bin ich wieder weg.«
Er war freundlich, jung und kein hohes Tier, überlegte ich, nicht gleich fünf Mann Mordkommission. Der Polizist begann:
»Sie sind eine Freundin von Frau Sperber, deren Todesursache wir aufklären müssen. Die Selbstmordtheorie halten wir für sehr unwahrscheinlich, aber trotzdem erkundigen wir uns bei ihren Freunden, ob sie eventuell mal Gedanken in dieser Richtung geäußert hat.«
»Was sagen denn die anderen Freunde?« fragte ich.
»Alle meinen übereinstimmend, daß sie sich das nicht vorstellen können, sie sei nie depressiv gewesen.«
»Im Prinzip kann ich mir das auch nicht denken. Allerdings habe ich gehört, daß Beate am Tag davor eine Aussprache mit ihrer Tochter hatte. Vivian hat ihr erzählt, daß sie sich mit einem doppelt so alten Mann angefreundet hat.«
»Ja, das wissen wir bereits, die Tochter hat es uns schon mitgeteilt. Aber ihre Mutter hat das sehr gelassen aufgenommen.«
Ich druckste herum. »Sie müssen mir versprechen, daß Sie vertraulich behandeln, was ich Ihnen hierzu noch sagen kann.
Also, auf keinen Fall ein Wort davon zu den Kindern, das bin ich meiner Freundin schuldig!«
Mit einer gewissen Neugier sah mich der junge Mann an.
»Soweit es möglich ist, werden wir Ihre Mitteilung vertraulich behandeln.«
»Beate hat mir kürzlich mitgeteilt, daß sie selbst in diesen Mann verliebt war.«
Der Polizist fand das zwar interessant, aber er meinte: »Bei einer stabilen Frau wie Ihrer Freundin wird das schwerlich für einen Selbstmord ausreichen. Und wie soll man erklären, daß sich eine Mutter von drei Kindern an diesem Samstag völlig normal verhält, einkauft, schwimmen geht und dann plötzlich auf einen einsamen Turm im Walde steigt um sich hinunterzustürzen?«
Ich mußte zugeben, daß das rätselhaft sei.
»Nein, das war bestimmt kein Selbstmord«, versicherte er.
»Außerdem hat die Obduktion ergeben, daß sie vorher Alkohol — wahrscheinlich Sekt — getrunken und auch etwas gegessen hat.
Es sieht eigentlich so aus, als hätte sie sich mit einem Mann getroffen — Sektfrühstück oder so was.«
»Ihr Freund ist am Wochenende bei seiner Familie in München«, wandte ich ein.
»Ja, das ist bekannt. Aber er hat kein Alibi, nur die Aussage seiner Frau. Möglich ist immerhin, daß er Frau Sperber am Turm traf und ihr eine sehr unangenehme Nachricht — beispielsweise, daß es aus wäre zwischen den beiden — mitgeteilt hat. Aber wieder sagen alle, daß die Bindung an diesen Mann nicht tief war und sie deswegen kaum sehr verletzt wäre, wenn er sich von ihr trennen wollte. Wenn Sie sagen, daß Frau Sperber in den Freund ihrer Tochter verliebt war, dann bestätigt das ja diese Theorie.«
»Und wenn sie nun ihrerseits ihrem Freund Jürgen eine Trennung vorgeschlagen hat?« warf ich eine neue Version in die Waagschale.
»Könnte sein, aber es wäre kaum ein Grund, sie gleich in den Abgrund zu stürzen. Aber ich sagte ja schon, daß wir diesen Herrn Jürgen Faltermann überprüfen, sein Alibi hätten wir gern etwas konkreter nachgewiesen. — Ist Ihnen vielleicht sonst noch irgend etwas aufgefallen, was eben nicht zur Sprache kam?«
Ich verneinte und fragte, ob man also letzten Endes an einen Unglücksfall denke.
»Ehrlich gesagt«, meinte der Polizist, »ich persönlich glaube das nicht. Wer fährt schon mutterseelenallein in den Wald und trinkt Sekt auf einem Turm! Das macht man doch nicht. Ich glaube, daß irgend jemand dort bei ihr war, der sich aber nicht zu erkennen gibt. Wenn dieser Jemand ein reines Gewissen hätte, würde er sich melden. Ob es nun Mord, Selbstmord oder ein Unfall war, kann also im Augenblick nicht geklärt werden.
Wenn Sie mich aber so direkt fragen, mein Tip ist Mord«, unter diesen Worten gab er mir die Hand, steckte seine Aufzeichnungen weg und verabschiedete sich.
Kaum hatte ich meine Ausgehkleider abgelegt und vorsichtshalber nicht die schlimmsten Fetzen, sondern Hosen und Pullover angezogen, da schellte es. Witold? Nein, es waren Frau Römer und der Dieskau, der mich mit überschwenglicher Freude begrüßte. Frau Römer war atemlos vom Treppensteigen, aber stolz darauf, daß sie — die Kranke — mich, die noch Kränkere, besuchte. Wenn mir nicht gar so mies zumute gewesen wäre, hätte ich mich gefreut.
Frau Römer hatte ebenfalls übers Büro von meiner Krankheit erfahren und brachte mir nun einen Rosenstrauß und einen Kriminalroman (welche Ironie, dachte ich) und die Grüße des Chefs, mit dem sie gesprochen hatte. Sie erzählte mir lange von ihren Plänen: Irgendwann in der nächsten Zeit wollte sie nach Amerika zu ihrer Tochter reisen. Ich erfuhr alles von ihrer Kur, von den Zimmergenossinnen im Krankenhaus und dergleichen mehr. Ich konnte mich schlecht konzentrieren.
»So gut wie jetzt ging es mir schon lange nicht«, sagte die herzkranke und brustamputierte Frau Römer, »ich fühle mich relativ wohl, ich habe Zeit für mich und brauche vielleicht nie mehr ins Büro zurück. Sicher habe ich noch ein paar gute Jährchen vor mir.«
Nach einer Krebserkrankung fand ich diese Haltung erstaunlich. »Frau Römer«, sagte ich weinerlich, »Sie haben allerhand eingesteckt im Leben und behalten trotzdem Ihren Optimismus. Das geht mir ganz ab.«