Sie betrachtete mich eindringlich. »Eine schwere Krankheit bringt auch neue Impulse, überhaupt alles Schwere, das man übersteht! Hören Sie, Frau Hirte, wichtig ist: Niemals aufgeben!« Und beschwörend nahm sie meine Hand, als wüßte sie, was in mir vorging.
Ja, ich darf nicht aufgeben, sagte ich laut vor mich hin, als ich wieder allein war. Es ist noch gar nichts verloren. Erstens kommen sie mir nicht auf die Spur, noch nicht einmal der leiseste Verdacht liegt gegen mich vor, geschweige denn irgendein Beweis. Und zweitens ist Witold zwar im Moment in Vivian verliebt, aber wird das lange anhalten?
Vivian! Ich hatte sie kennengelernt, als sie acht Jahre alt war.
In der Pubertät wurde sie überaus schwierig. Sie hatte die Scheidung sehr schwer genommen. Der Vater war ihr Idol gewesen, und nun ließ sie es zeitweise an Beate aus, daß er nicht mehr da war. Damals trug sie nur Klamotten, die man nicht einmal dem Roten Kreuz angeboten hätte. Sie lief in einem abgewetzten Plüschmantel herum, in dem sie wie ein Teddybär in der Mauser aussah. Beate ertrug das mit Anstand; ich wäre ausgerastet. Dann fing sie an zu haschen und zu trinken, und schon mit sechzehn Jahren kam sie so manche Nacht nicht heim. Eine feine Braut hatte sich Witold da angelacht. Aber ich mußte zugeben, daß Vivian heute eine aparte Erscheinung war. Tiefschwarze Haare, eine helle Haut und große Augen, die allerdings hemmungslos ummalt waren.
Ihre pubertäre Lumpenkleidung hatte sie unter geflissentlicher Verachtung des guten Geschmackes im Laufe der Zeit umkultiviert, so daß sie inzwischen wie eine Juliette-Gréco-Nachzucht anzusehen war. Vivian war mit dem Studieren noch lange nicht fertig, sie besuchte in Frankfurt die Kunstakademie oder tat wenigstens so. Sonntags fuhr sie meistens mit der Bahn nach Darmstadt zu ihrem Bruder Richard, und beide rückten dann in dessen Schrottauto bei Beate an. Lessi, die in Heidelberg Sport studierte, war dagegen unentwegt zu Hause und schaffte dort Unordnung. Ich hatte mich für die Kinder meiner Freundin nie sonderlich interessiert, aber wohl oder übel mußte ich mir bei jedem Zusammentreffen anhören, was Beate über ihre Herzchen zu berichten hatte.
Wie konnte sich ein Mann von Witolds Niveau in eine Zigeunerin wie Vivian verlieben? Soweit ich informiert war, hatte es Vivian im Laufe von zehn sexuell aktiven Jahren auf eine unüberschaubare Zahl von Liebhabern gebracht. Selbst die tolerante Beate wollte nicht bei jedem sonntäglichen Familienessen ein neues Gesicht sehen und hatte verlangt, daß Vivians Freund mindestens drei Monate lang ein und derselbe blieb, bevor er angeschleppt wurde. Diese Forderung hatte ihre Tochter dazu veranlaßt, zwei Jahre lang fast gar nicht mehr aufzutauchen. Aber solche Mätzchen schienen überwunden, das Verhältnis von Mutter und Tochter hatte sich normalisiert, ja es war zuletzt eher liebevoll zu nennen gewesen.
Witold rief wirklich noch an. Er schien doch so etwas wie freundschaftliche Gefühle für mich zu entwickeln, wenn sie auch noch weit von Liebe entfernt waren. Nachdem er sich teilnahmsvoll nach meiner Befindlichkeit erkundigt hatte, erzählte ich ihm, daß ein Polizeibeamter bei mir gewesen sei.
Er wollte alles genau wissen, aber ich verschwieg ihm, daß der Polizist an Mord glaubte.
»Weißt du, Thyra«, meinte Witold, »ich glaube ja inzwischen auch, daß Beate eine Schwäche für mich hatte.
Aber ich kann mir doch nicht recht vorstellen, daß sie erst einkaufen und schwimmen geht und sich dann das Leben nimmt. Außerdem hätte sie einen Brief an die Kinder hinterlassen. Eine Kurzschlußreaktion scheidet meiner Meinung nach aus, wenn man zuvor Sauerbraten, Weißkohl und Spätzle einkauft. Ein gut durchdacht er Einkaufszettel lag im Portemonnaie.
Aber noch etwas anderes fiel mir ein: Damals, als ich Beate auf der Weinkerwe kennenlernte, bin ich doch mit ihr auf die Schiffschaukel gestiegen. Schwindlig werde sie nie, das hat sie fast zu sehr betont. Es könnte ja sein, daß sie sich darin überschätzt hat: Sie ist auf dem Rand des Aussichtsturms herumbalanciert, hatte vorher aber Sekt getrunken und verlor das Gleichgewicht. Was meinst du dazu?«
»Ja, das könnte schon sein«, versicherte ich. Mit dem Rumturnen kam er nahe an die Wahrheit heran. »Beate wollte bei jeder Gelegenheit ein bißchen turnen und klettern, aber schließlich war sie auch nicht mehr siebzehn.«
»Ganz genau«, stimmte mir Witold zu, »sie war nicht mehr die Jüngste. Sie hätte ihr Alter akzeptieren und solche Eskapaden lassen sollen.«
Das mußt du gerade sagen, dachte ich. Ich ärgerte mich.
Schließlich war ich im gleichen Alter wie Beate, und er war nun auch nicht meilenweit davon entfernt.
Ich hörte am Telefon, wie er an seiner Zigarette zog.
»Thyra«, ging es wieder weiter, »könntest du dir vorstellen, daß dieser Jürgen Faltermann deine Freundin runtergestoßen hat? Beates Kinder halten wenig von ihm und sind ihm eher aus dem Weg gegangen.«
»Ich kenne Herrn Faltermann nicht besonders gut«, sagte ich vorsichtig, »so was traue ich ihm eigentlich nicht zu, aber weiß man, was in einem Menschen vorgeht…«
»Würdest du mir einen Mord zutrauen?« fragte Witold, »na ja, lassen wir das lieber.«
Ich dachte, daß sein Telefon vielleicht immer noch abgehört wurde, und fand es gar nicht gut, wenn man am Ende auf mich aufmerksam würde.
»Von woher rufst du an?« fragte ich ängstlich.
Witold lachte jetzt. »Meine Komplizin ist ein Angsthase. Ich rufe nicht von zu Hause an, versteht sich. Also dann, wir sehen uns auf der Beerdigung. Tschüs, Thyra.«
In den nächsten Tagen dachte ich manchmal darüber nach, ob ich jetzt Vivian umbringen sollte. Aber ich verwarf diesen Gedanken. Erstens wollte ich überhaupt nie wieder jemanden ermorden, weil ich einfach nicht die Nerven dazu hatte.
Zweitens versprach ich dem Geist meiner toten Freundin, mit dem ich nachts häufig Zwiesprache hielt? ihre Kinder nicht anzurühren. Und drittens: Wie sollte ich es überhaupt anstellen? Den Revolver durfte ich nicht mehr benutzen.
Vivian und ich hatten eine distanziert-höfliche Beziehung (genau genommen mochten wir einander nicht), nie hätte ich sie irgendwohin locken können.
Witold liebte sie und sie ihn, so sagte er. Aber das war reine Illusion. Vivian war flatterhaft, über kurz oder lang hatte sie einen anderen, und Witold würde leiden. Wer konnte ihn dann besser trösten als ich? Schließlich wußte ich viel über ihn, das hatte er selbst gesagt, und er wollte ja auch seine Freunde in diese neue Liebschaft noch nicht einweihen.
Es bestand also kein Grund zum Verzweifeln. Niemand verdächtigte mich, und dem Ziel meiner Bemühungen war ich ein ganzes Stückchen näher gekommen.
6
Mich erreichte die Todesanzeige. Beates Vater und ihre Kinder, Geschwister und Freunde trauerten um sie; der Exmann war nicht aufgeführt, obgleich er doch die Anzeige aufgesetzt hatte.
Zur Beerdigung bestellte ich einen kleinen Kranz aus blauen Blumen (Beates Lieblingsfarbe): Rittersporn, Eisenhut, Kornblumen, Iris und einige blau eingefärbte Margeriten. Er sah wie ein Hochzeitskranz aus, dachte ich, nicht wie ein Totenkränzlein.
Ich selbst war zurückhaltend aufgemacht; schwarz mußte sein, Lippenstift und Rouge vermied ich. Mein Selbstbewußtsein war geschrumpft, ängstlich und schüchtern versuchte ich, weder zu früh noch zu spät auf dem Friedhof zu erscheinen.
Es war eine riesengroße Beerdigung, was ich nicht erwartet hatte. Die Autos standen auf beiden Seiten der Straße, weil sie auf dem Parkplatz nicht unterkamen.
Auf dem Weg zum Portal rief man hinter mir meinen Namen: »Hallo, Rosi, warte doch!«
Ich duze mich mit sehr wenigen Menschen, in meinem Mannheimer Büro mit niemandem, obgleich sie mich deswegen für schrullig halten. Aber diese Mode des Duzens am Arbeitsplatz habe ich aus tiefer Überzeugung abgelehnt.
Verwandte habe ich keine und auch kaum Freunde zum Duzen.
Beate, ja, die kannte ich seit meiner Kindheit, und auch ihre Kinder hatten mich, ohne lange zu fragen, »Rosi« genannt, nicht aber Beates früherer Mann; neulich mal wieder Hartmut aus Berlin — ihn konnte ich wohl oder übel nicht gut siezen; Witold — Gott sei Dank! — und quasi aus Zufall noch sein Freund Dr. Schröder. Sonst gab es keinen, dachte ich. Aber aus der schwarzströmenden Trauergemeinde löste sich doch eine mir flüchtig bekannte Gestalt, die »du« zu mir sagte: Beates letzter Freund, Jürgen Faltermann. Tatsächlich hatte er mir das Du bei unserer einzigen Begegnung regelrecht aufgezwungen.