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Ich dachte damals, ich würde ihn wahrscheinlich kaum je wieder treffen und wollte auch nicht gar so zickig sein. Nun war er neben mir.

»Rosi, ich wollte dich schon seit Tagen anrufen, aber ich habe leider deinen Familiennamen vergessen.«

Er war mir viel zu distanzlos.

»Hirte«, sagte ich mit müder Kälte.

»Ach ja, genau! Hirte! Aber ist jetzt egal. Hast du hinterher ein bißchen Zeit, ich muß unbedingt mit dir sprechen.«

»Wenn’s denn sein muß«, sagte ich ziemlich unfreundlich, aber er erwiderte nur: »Also, dann warte hier am Haupteingang.«

Wir schoben uns in die kleine Kapelle, und ich suchte einen Platz im Hintergrund, während Jürgen sich in der Mitte niederließ.

Beate war früher gemeinsam mit ihrem Mann aus der Kirche ausgetreten, erinnerte ich mich. Ob nun trotzdem von einem Pfarrer eine Rede gehalten wurde?

Vorn saß Beates Vater, alt und gebrochen, neben ihm Lessi.

Er hielt ihre Hand. Dann folgten Richard, Vivian und Beates Geschwister mit ihren Familien, in den Reihen dahinter entferntere Verwandtschaft, auch Beates früherer Ehemann und eine gewaltige Menge von Freunden und Bekannten, unter denen ich auch Witold entdeckte. Neben ihm saß aus purem Zufall — ich erkannte sie nach einem Foto — die neue Frau Sperber, Beates Nachfolgerin, mit ihrer Tochter, also einer Halbschwester von Beates Kindern.

Die Rede wurde von Beates Schwager gehalten, einem Professor aus Hamburg. Er sprach geistreich und gekonnt, schilderte ihr Leben und lobte ihre vielen guten Eigenschaften.

Aber seine kalte und eher geschäftsmäßige Ansprache löste bei den Zuhörern keine Emotionen aus; man hustete, scharrte, schneuzte auch vereinzelt, flüsterte.

Als er fertig war, entstand eine kurze Pause. Dann rauschte es an der Tür, und etwa zwanzig gestandene Männer in einheitlicher Kleidung traten ein. Der betagte Vater, der sein Leben lang Mitglied im Männergesangverein gewesen war, hatte diese trefflichen Herren hergebeten. Anscheinend war ihm eine Trauerfeier ohne Pfarrer und Gebete zu kalt erschienen, und nun hatte er für beispielhafte Stimmung gesorgt. Die alten Sänger legten die linke Hand auf den Rücken, stellten ein Bein vor und sangen auswendig: »Ich bete an die Macht der Liebe!«, wobei sie abrupt vom Porte ins Pianissimo rutschten und mühelos wieder zurück. Obgleich ich, wie schon betont, von Musik wenig Ahnung habe, hörte ich schon bei den ersten Tönen, daß dies hier Kitsch war. Was dem Redner nicht geglückt war, den Sängern gelang es auf Anhieb: Ein heilloses Schluchzen setzte ein, alt und jung konnten sich nicht mehr beherrschen, die vielen Menschen vereinten sich endlich zu einer Gemeinschaft der Weinenden.

Die Künstler, die diesen Erfolg erwartet hatten, ließen sich nicht lumpen und sorgten dafür, daß der Strom nicht so schnell versiegte.

Stolz durchflutete mich: Mir und diesen Trauersängern war es gelungen, so viele unterschiedliche Menschen in einem großen Gefühl zu vereinen. Ohne mich wäre diese unvergeßliche Feier nie zustande gekommen.

Mein Hochgefühl hielt an, bis ich Jürgen Faltermann traf.

Ich konnte ihn nicht leiden, was nicht zuletzt damit zu tun hatte, daß er mich so ungehemmt »Rosi« nannte.

»Gehen wir einen trinken«, sagte er gleich, »ich habe keine Lust, von der ganzen Mischpoke angegafft zu werden.« Er schwitzt wie Hartmut, dachte ich angewidert.

Wir saßen in einem billigen Speiselokal, in dem es penetrant nach Fritten roch. Jürgen bestellte Bier, ich Mineralwasser, er Schnitzel mit Salat, ich eine Königinpastete.

Jürgen goß das Bier in die Kehle. Er zog sein Jackett aus und saß mir nun in einem ungelüfteten schwarzen Rollkragenpullover aus Synthetic gegenüber.

»Kommen wir doch gleich zur Sache«, begann er und beobachtete scharf die Tür. Aber andere Trauergäste schienen sich nicht hierher zu verirren. Ich sah ihn fragend an.

»Die Polypen löchern mich pausenlos. Dabei bin ich am betreffenden Wochenende brav bei Weib und Kind in München gewesen. Ich habe eine Quittung von einer Autobahntankstelle vom Sonntag abend, aber das nützt mir nicht sehr viel. Ich kann nicht beweisen, daß ich schon Freitag nachmittag von hier losgefahren bin. In München hat mich am Samstag kein Schwein gesehen, außer meiner Frau. Die kleinen Kinder zählen sowieso nicht. Das Auto stand in der Garage. Es war zwar schönes Wetter, aber ich Idiot habe am Samstag nur zu Hause gehockt und meine Buchführung gemacht.«

Er ergriff die Plastikblume aus dem Tischväschen und zerlegte sie.

Ich wollte gerade fragen, was mich das anginge, da kamen schon seine Vorwürfe: »Du mußt den Bullen diesen Blödsinn erzählt haben, daß die Beate in den Typ von der Vivian, den eingebildeten Lehrer, verliebt war. Wie kommst du überhaupt dazu, so eine Lüge zu verbreiten?«

Ich wurde rot und versicherte, es sei keine Lüge, und ich hätte das auch nicht verbreitet, sondern einzig und allein der Polizei mitgeteilt, die ihrerseits völlige Diskretion versprochen habe.

Jürgen bestellte neues Bier.

»Die Polizei und Diskretion, daß ich nicht lache! — Es ist wirklich der größte Quatsch, den ich je gehört habe. Die Beate und ich waren zwar kein romantisches Liebespaar, aber wir machten uns gern und waren ehrlich zueinander. So jemand wie du (was meinte er damit?) kann das natürlich nicht begreifen.«

Ich fühlte mich beleidigt. Schneidend sagte ich, in diesem Ton lasse ich nicht mit mir reden. Ich kennte Beate seit meiner Schulzeit, und sie sei seit langem meine Freundin gewesen.

»Freundin ist gut«, höhnte Jürgen, »über eine Freundin verbreitet man keine Unwahrheiten. Zu dir hatte sie sowieso kein Vertrauen, sonst hätte sie dir erzählt, was sie mir schon längst gesagt hatte.«

»Und das wäre?« fragte ich mit rasendem Herzen.

»Die Beate wußte schon lange, daß die Vivian mit dem Lehrer ging, sie war doch nicht doof! Klar war, daß die Vivian einen neuen Freund hier und nicht in Frankfurt hatte, weil sie auf einmal viel häufiger zu Besuch kam und dann mit Beates Auto die halbe Nacht wegblieb. Außerdem kam dieser Typ, seinen Namen habe ich gerade vergessen, nachdem er die Vivian kennengelernt hatte, grundlos und wie zufällig öfter vorbei, und immer war dann auch die Vivian da. Mütter sind neugierig! Natürlich hat die Beate aus dem Fenster gespäht, wenn die Vivian abgeholt wurde und ausnahmsweise kein Auto brauchte. Dann sah sie den Lehrer an der Straßenecke warten.«

Ich atmete schwer. »Na gut, dann hat sie es eben gewußt«, sagte ich, »aber warum soll es nicht stimmen, daß sie trotzdem selbst in ihn verliebt war?«

»Großer Gott, du bist schwer von Begriff. Sie machte sich wenig aus laschen Softies, oft genug haben wir über ihn gesprochen. Aber andererseits fand sie seine Freundschaft zu der Vivian auch nicht weiter schlimm. Sie sagte ungefähr so: ›Lehrer sind meistens pädophil, und Vivian hat einen Vaterkomplex, also haben sie eine solide Basis.‹ So redet man doch nicht, wenn man selber auf einen Mann scharf ist.«

»Es könnte auch Tarnung gewesen sein«, wandte ich ein, »damit du es nicht merkst.«

Jürgen sah mich kopfschüttelnd an.

»In welcher Welt lebt ihr alten Jungfern eigentlich?« posaunte er laut, daß andere Gäste ihre Köpfe umdrehten und mich interessiert begutachteten.

»Tut mir leid, Rosi, war nicht persönlich gemeint. (Wie denn sonst, dachte ich.) Aber du kannst dir wahrscheinlich nicht vorstellen, daß Beate und ich ohne den ganzen Beziehungsquatsch auskamen.«

Ich wollte gehen, aber er hielt mich fest, schwitzend und biergefüllt, ähnlich wie Hartmut neulich. Eiskalte Wut kroch in mir hoch.

»Herr Faltermann, lassen Sie mich los! Ich war eben auf der Beerdigung meiner besten Freundin und bin nicht disponiert für solche beleidigenden Gespräche.«