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Ich verließ, wenn auch ungern, noch einmal die Wohnung und begab mich in den kleinen Laden um die Ecke. Nun, Waschpulver, Vollkornbrot, eine Käseecke und etwas Obst konnte man immer brauchen, des weiteren aber kaufte ich eine Packung Schokoladen-Trüffel, gefüllt mit Orangenlikör.

In der Küche drückte ich eine Tablette aus der silbernen Schutzfolie. War dieses heikle Ding als Ganzes überhaupt in eine Trüffel einzupassen? Vorsichtig bohrte ich die Trüffel mit einem Fleischspießchen an. Zu meinem Erstaunen lief aber keine Flüssigkeit heraus, der Likör war in der zart schmelzenden Schokoladenmasse eingebunden. Es gelang mir, die Trüffel etwas auszuhöhlen, die Pille hineinzuschieben und die Praline wieder zuzudrücken. Sie sah allerdings etwas verformt aus, als habe sie in der Sonne gelegen.

Nun mußte ich einen Selbstversuch riskieren und mein Machwerk in den Mund stecken. Etwas ängstlich las ich ein zweites Mal die Gebrauchsanweisung. Wenn herzkranke Patienten dreimal täglich so eine Tablette schluckten, konnte mir eine nicht schaden. Also Mut! Ich schob mir das Ding in den Mund. Nein, es ging wirklich nicht. Die Zunge hatte den Fremdkörper sofort entdeckt und schokoladenbraun gefärbt wieder ausgestoßen. Zu groß, die Tablette.

Ich nahm sie, wischte die Schokolade mit einem Geschirrtuch ab und begann, die Tablette zu pulverisieren. Mit einem Messer erzielte ich nur Krümel, aber mit einem Hammer kam ich zu einem guten Ergebnis. Die zweite Praline wurde angebohrt und mit Pulver gefüllt, was zwar vorzüglich gelang, aber wiederum eine bemerkenswert matschige Trüffel zur Folge hatte. Ich probierte: Es schmeckte so gräßlich, daß ich die Trüffel angeekelt in den Spülstein spuckte. Pfui Teufel!

Nur ein Mensch mit abgestorbenen Geschmacksnerven konnte so etwas herunterkriegen. Und dabei mußte er — grob geschätzt — mindestens zwölf solcher Trüffel hintereinander wegessen, um aus den Pantinen zu kippen.

Nein, sagte ich mir, Vergiften liegt mir nicht. Wenn ich nun solche Trüffel, in mühevoller Arbeit gebastelt, anonym an Vivian oder den Faltermann schicken würde, was wäre dann?

Vivian würde eine probieren und den Rest wegkippen.

Faltermann würde vielleicht überhaupt nicht probieren (Biertrinker haben andere Gelüste), sondern das Geschenk seiner Frau oder einer neuen Eroberung anbieten. Das taugte alles nichts. Ich aß zornig die restlichen Trüffel auf — gegen alle meine eisernen Prinzipien — und legte das Gift wieder zu Frau Römers anderen Habseligkeiten.

Als ich nach einigen Tagen bei Frau Römer auftauchte, dem Dieskau eine Bratwurst und ihr selbst die kopierte Brahmskassette überreichte, umarmte sie mich erstmalig nach so vielen Jahren freundschaftlicher Verbundenheit, die nie in schulterklopfende Vertraulichkeit ausgeartet war.

»Frau Hirte, Sie sind die einzige aus der Versicherung, die ich vermissen werde. Die ganze Zeit haben Sie sich liebevoll um mich und meinen Hund gekümmert, heute habe ich auch mal etwas für Sie!«

Ein bißchen geheimnisvoll führte sie mich ins Schlafzimmer und hob ein Schmuckkästchen aus dem Kleiderschrank.

»Alles, was ich zu vererben habe, kriegt natürlich meine Tochter. Aber aus bestimmten Gründen möchte ich ihr dieses eine Stück nicht geben. Das schenke ich Ihnen«, und sie steckte mir feierlich eine Brosche an die Bluse. Es war ein altes Erbstück, das Profil eines Hermes aus schwarzem Obsidian geschnitten und von einem feinen Goldrand umrahmt.

»Sie sind verschwiegen, Frau Hirte, das weiß ich seit vielen Jahren. Niemand kennt den Vater meiner Tochter, und ich habe auch keinerlei Kontakt mehr zu ihm. Als das damals passierte, war er siebzehn und ich schon Ende Zwanzig. Ich konnte natürlich keinem erzählen, daß ich mich mit einem Schüler eingelassen hatte, und an Heirat war nicht zu denken. Ich habe ihm nie etwas von der Schwangerschaft mitgeteilt und habe damals meine Heimatstadt sofort verlassen. Diese Brosche hier ist von ihm. Er hat sie seiner Mutter einfach geklaut. Nie habe ich sie zu tragen gewagt, und ich möchte eigentlich auch nicht, daß meine Tochter sie trägt. Ich habe dieses Kind allein aufgezogen und ernährt. Wenn sie diese Brosche trüge, würde ich wahrscheinlich leiden.«

Ich wollte das erinnerungsträchtige Stück nicht annehmen.

»Doch«, sagte Frau Römer, »meiner Tochter gefällt sie gar nicht. Lassen Sie mir doch die Freude!«

Mit gemischten Gefühlen ließ ich also den Schmuck an meiner Bluse baumeln, denn die feine Seide wurde durch das schwere Material arg malträtiert. Ob auch Frau Römer berechnend war? Denn auf die geplante Amerikareise konnte sie den Dieskau nicht gut mitnehmen.

7

In der letzten Zeit beobachtete ich an mir, daß das überwältigende jugendliche Gefühl des Verliebtseins fast unmerklich schwächer wurde. Schwer zu sagen, ob ich eine gewisse Erleichterung darüber empfand, daß meine Gedanken nun nicht mehr so ausschließlich von diesem großartigen Thema blockiert wurden, oder ob ich traurig war über die zu erwartende Leere des Alters. Aber seltsamerweise rückte etwas Neues ebenso gleitend, schleichend in mein Halbbewußtsein vor, wie die Liebe sich wegzustehlen schien. Das drohende Vakuum des Liebesverlustes wurde dadurch kompensiert.

Es ist nicht leicht, die Anfänge dieser Wahrnehmung plausibel darzustellen: Zum ersten Mal empfand ich auf dem Friedhof jenes phantastische Gefühl der Macht. Später ertappte ich mich, daß mich mitten auf der Straße eine leichte Euphorie überkam: Niemand kann mir ansehen, daß ich zwei Menschen auf dem Gewissen habe und noch weitere umbringen könnte, wenn ich nur wollte.

Im Autoradio hörte ich Lotte Lenya das Lied von der Seeräuberjenny singen: »Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen, und ich mache das Bett für jeden…«, Jenny hatte sich gerächt für alle Demütigungen. »Und Sie wissen nicht, mit wem Sie reden…«, sang Lotte Lenya mit überzeugender Eindringlichkeit. Auch bei mir wußte niemand, mit wem er redete. Der Chef ahnte nicht, daß er einer Mörderin immer neue unangenehme Aufträge zuschob, Arbeiten, für die er im Grunde zu faul war. Wenn ich in meinem abgelegenen Bürozimmer saß und nach dem gemeinsamen Essen in der Kantine vor meinem geistigen Auge die fressenden und schwafelnden Kollegen Revue passieren ließ, dann rollte so mancher Kopf, und ich sagte bloß »hoppla!«

Macht über andere Menschen war fast besser als Liebe und im Grunde das Gegenteil davon. Wer liebt, ist machtlos, ohnmächtig und abhängig. Und doch wollte ich meine Verliebtheit noch nicht so ohne weiteres streichen, zu stark hatte sie in mein Leben eingegriffen, mir Jugendlichkeit, Schwung und Tatkraft verliehen, ein neues Körpergefühl und eine andere Selbsteinschätzung. Ich wollte weiterhin darum kämpfen, ich wollte noch einmal so einen heiterunbeschwerten Tag erleben wie damals auf unserer Wanderung durch den Odenwald.

Ich tat ein Gelübde, ich betete sogar, obgleich mir mein Glauben von einer unbarmherzig frommen Mutter frühzeitig ausgetrieben worden war. »Falls es dich gibt, Gott«, sagte ich, »dann schenk mir einmal im Leben das Glück der Liebe, das du anderen Menschen wahllos und reichlich in den Schoß wirfst. Ich habe dich nie um etwas gebeten. Jetzt ist es mir ernst. Wenn es dich geben sollte, dann mach, daß mich Witold liebt und wir uns kriegen. Wenn du aber ungerecht und hartherzig bist und dieses Gebet überhaupt nicht zur Kenntnis nimmst, dann werde ich in Zukunft keine Rücksichten mehr auf deine Gebote nehmen.«

Rosi, du willst den lieben Gott erpressen, dachte ich und mußte lachen.

Von Beates Kindern hörte ich nichts. Obgleich ich früher kaum je einen Gedanken an sie verschwendet hatte, beschäftigte mich jetzt ihr weiteres Schicksal. Ob man Beates Wohnung verkauft hatte? Ich entschloß mich eines Tages, ihre Nummer zu wählen. Der Sohn meldete sich, den ich am wenigsten kannte.

»Tag Richard«, sagte ich leise, »eigentlich wollte ich nur fragen, ob Beate irgendeinem Verein oder einer gemeinnützigen Organisation nahegestanden hat, für die ich eine Spende einzahlen könnte.«