Na, wenn er sich schon freute, ich war fast außer mir! Ich kaufte mir noch am gleichen Tag Wanderschuhe und begann mit dem Einlaufen, indem ich sie vorm Fernseher anbehielt.
»Rosi«, sagte ich laut zu mir, »und wenn dir die Füße beim Wandern vor Schmerz absterben, du muckst dich nicht! Denk an die kleine Seejungfrau, die auch ausgehalten hat für ihren Prinzen.«
Im übrigen wollte ich im Moment viel lieber die bezaubernde See-Jungfrau sein als die blutrünstige SeeRäuberjenny. Ich besorgte mir für alle Fälle einen Vorrat an Heftpflaster; mit dem Kauf eines Rucksacks wollte ich lieber noch warten, weil ich darin unerfahren war wie ein neugeborenes Kind.
Pünktlich um zwei Uhr kam ich in Bickelbach an. Ich trug die neuen, besonders leichten Wanderschuhe, die ersten Jeans meines Lebens und einen meiner dunkelblauen Urlaubspullover. Witolds Auto war noch nicht da, anscheinend nur das von Ernst Schröder. Da ich ihn ja kannte und er mich wahrscheinlich vom Inneren des Hauses aus kommen sah, stieg ich wie damals im Sommer die ausgetretenen Stufen empor.
Die Tür wurde aufgerissen. Eine Frau reichte mir die Hand.
»Ich bin Pamela Schröder, und Sie sind bestimmt von Rainer hierherbestellt worden.«
Ich stellte mich vor und trat ein. Auf der hölzernen Eckbank lag Ernst Schröder und schlief, umstopft von verschiedenen Sofakissen. Ich wollte die Stimme dämpfen, aber seine Frau lachte nur. »Den kann nichts in seiner Ruhe stören, je lauter es zugeht, desto gemütlicher schnarcht er.«
Sie setzte Wasser auf, räumte Tassen aus dem Schrank.
Fragend sah sie mich an.
»Wie viele sind wir eigentlich?«
Ich zuckte mit den Achseln. Pamela Schröder war rothaarig und wirkte auf Anhieb wie das Gegenteil von ihrem sanft schlummernden Mann. Sie war eine temperamentvolle Aktivistin, ein dominanter Typ, auffällig anzusehen. Obgleich sie uralte, viel zu große Hosen mit Flicken trug, mochte sie nicht auf Stöckelschuhe und eine violette Brokatbluse verzichten. Sie war flink in den Bewegungen, ihre rot lackierten Krallen griffen zielsicher nach Geschirr und Besteck.
Dabei plauderte sie lässig mit einer Zigarette zwischen den Lippen, während ich etwas ungeschickt meine Hilfe anbot.
Ernst gähnte plötzlich, öffnete die Augen und sah teils verschmitzt, teils schuldbewußt auf die unbarmherzigen Vorbereitungen zum Kaffeetrinken. Schließlich stand er mit einem Ruck auf, begrüßte mich und verschwand im Klo.
Ich hörte einen Wagen und spähte aus dem Fenster. Endlich!
Witold kam, neben ihm saß eine blonde junge Frau.
Sie kamen herein. Ich musterte mit tiefstem Mißtrauen seine Begleiterin. Witold erklärte atemlos, daß drei Interessenten abgesagt hätten, aber das Ehepaar Mommsen noch zu erwarten sei. Pamela rechnete. »Also wären wir sieben«, stellte sie fest und übergab mir ohne Erklärung den Stapel Teller. Ich begann den Tisch zu decken, wobei mir die Blonde sofort half. Witold stellte uns vor.
»Das ist Frau Zoltan, eine Kollegin von mir.«
Meine gute Laune verflog. Wahrscheinlich hatte er diese Dame für sich mitgebracht. Die Schröders waren ein Ehepaar und die noch nicht anwesenden Mommsens ebenfalls; also bekam ich mal wieder meine vertraute Rolle als alte Tante zugewiesen.
Ernst kam vom Klo, der Tisch war fertig gedeckt, ein Zwetschgenkuchen wurde von Pamela aus dem Auto geholt, Frau Zoltan schlug Sahne. Als nach einer halben Stunde das ominöse Ehepaar nicht aufgetaucht war, begannen wir mit dem Kaffeetrinken. Von der Wanderung wurde noch gar nicht gesprochen.
Der sorgsame Hausvater Ernst Schröder schlug vor, daß wir uns als zukünftige Wanderkameraden alle duzen sollten.
Eigentlich betraf das nur mich, ich hatte die beiden Frauen ja noch nie zuvor gesehen. Pamela Schröder meinte, jeder (bis auf ihren Mann) würde sie Scarlett nennen, und ich sollte das auch so halten. Frau Zoltan hieß Kitty und hatte keine Extrawünsche. Witold sagte ganz selbstverständlich, ich hieße »Thyra« und kehrte somit die »Rosemarie« völlig unter den Tisch. Sofort regte man sich über diesen seltsamen Namen auf, und Witold hatte wieder die gute Gelegenheit, Gorm Grimme zu zitieren, wobei Kitty die Verse leise mitsprach, während die Schröders verdutzt lauschten.
Kitty war in Witold verliebt, das war mir spätestens nach einer Stunde klar. Doch sah es nicht nach einer herausfordernden, sondern einer stillen und hingebungsvollen Zuneigung aus, die offenbar nicht im gleichen Maße erwidert wurde. Witold versprühte Charme und Witz, er bestritt über weite Strecken die Unterhaltung und sonnte sich im Erfolg.
Scarlett war ihm aber in gewisser Weise ebenbürtig, denn auch sie liebte große Auftritte und lechzte danach, im Rampenlicht zu stehen. Mit zwei solchen Entertainern und Windmachern waren wir anderen drei zum bloßen Publikum degradiert, aber wir genossen die Darbietungen natürlich und klatschten Beifall.
Das Ehepaar Mommsen erschien nicht.
»Bevor der angekündigte Regen einsetzt, sollten wir uns noch ein wenig die Beine vertreten«, ordnete Witold an. Der Himmel bewölkte sich. Aus den drei Autos wurden zwei Schirme geholt, im Haus war noch ein weiterer. Witold hatte zusätzlich eine Wetterjacke dabei. Für alle Fälle waren wir nun gegen den Regen gerüstet, denn Pamela wollte nicht mit Spazierengehen, sondern auf die Mommsens warten und das Geschirr spülen.
Wir liefen also los. Zu meinem großen Bedauern war Witold mit seinem Freund im Nu ein Stück voraus, und wenn Kitty und ich ihnen durch beschleunigtes Gehen in Reichweite kamen, schienen sie sofort einen Zahn zuzulegen. Kitty lachte.
»Die beiden müssen über den Oleg reden!«
Wer war Oleg? Kitty erklärte mir, daß die Schröders zwei Kinder hätten, die fünfzehnjährige Annette und den achtzehnjährigen Oleg. Der Junge sei ein intelligenter Tunichtgut, bereits zweimal sitzengeblieben, jedoch sehr frühreif, was seine skandalösen Frauenaffären anginge. Ernst wolle sicher aus Rainer Engstern herausquetschen, was man im Lehrerzimmer für Klagen hatte. Ich fragte Kitty, ob sie ihn auch unterrichte.
»Ja, bei mir hat er Geschichte und bei Rainer Französisch.
Ich persönlich kann seinem Charme schlecht widerstehen, irgendwie kommt er bei mir immer mit einem blauen Auge davon.«
Kitty war mir sympathisch, ungeachtet meiner Ängste, daß sie es auf Witold abgesehen hatte. Sie war klein und drahtig, ein Pfadfindermädchen mit gesunder Gesichtsfarbe; ihr Äußeres war unauffällig, ihre Kleidung verhalten. Sie beobachtete mit kritischen Augen, manchmal spöttisch, aber niemals bösartig. Zuweilen machte sie eine trockene Bemerkung, die überaus witzig war. Ich hatte das Gefühl, einem zuverlässigen, ein bißchen introvertierten Menschen zu begegnen. Kitty schien nicht verheiratet zu sein, was eigentlich verwunderlich war.
Erst als wir fast wieder im Bickelbacher Holzweg angekommen waren, blieben die Männer stehen und warteten auf uns. Nun ging Kitty mit Ernst Schröder voran, um mit ihm den Oleg zu besprechen. Ich trödelte absichtlich, um Witold noch einige kostbare Minuten ganz für mich zu haben. Ich fragte ihn nach Kitty.
»Eine sehr liebe Kollegin«, betonte er, »allgemein geschätzt.
Wir haben früher mehrere Klassenfahrten zusammen gemacht, da sind wir ein perfektes Gespann gewesen.«
Der Pferdevergleich paßte zu Kitty, obgleich sie sicherlich kein Ackergaul, sondern ein freundliches Pony war.
»Ist sie verheiratet?«
»Aber nein, erstaunlicherweise hat sie noch nicht den Richtigen gefunden. Aber Kitty stellt eben Ansprüche, und das mit Recht«, stellte er fest. Ob sie ihn für den Richtigen hielt?
»Und wie ist es mit Vivian gelaufen?« fragte ich, bestimmt etwas zu indiskret.
Aber Witold sprach nicht ungern über Intimitäten. Sein Gesicht nahm einen ärgerlichen Ausdruck an.