Выбрать главу

Aber ich ging doch hin, ziemlich zerstreut. Nun hatte ich diesen Abend so geplant, jetzt war es auch egal. Der kleine Saal war ganz voll. Als der Redner eintrat, wurde sofort geklatscht. Er sah gut aus: grau-brauner Wuschelkopf, tiefblaue Augen. Lässig angezogen, aber durchaus überlegt. Mittelgroß, eher zierlich. Ein schöner Mann, ich vergaß Beate und Lessi.

Als er dann anfing zu reden, vergaß ich überhaupt alles um mich und weiß auch nichts mehr von dem, was er über Ernst Moritz Arndt, Theodor Körner und Friedrich Rückert sagte.

Seine Stimme tönte in meinen Ohren, daß es mir schwindelig wurde, mein Herz klopfte, mein Magen flatterte. Es war nicht die berühmte Liebe auf den ersten Blick, sondern auf den ersten Ton. Seine warme Stimme war es, die auf mich einen derartigen erotischen Zauber ausübte, daß ich völlig ins Träumen geriet und nach anderthalb Stunden halb betäubt nach Hause fuhr.

So plötzlich hatte es mich erwischt, mich alte Schachtel, die fest geglaubt hatte, völlig immun gegen schöne Männer und aufregende Stimmen zu sein. »Wenn alte Scheunen brennen…«

Am nächsten Tag rief ich Beate gleich in der Mittagspause an. Doch sie wollte nur von ihrer schwangeren Tochter reden, und ich mußte mir das wohl oder übel eine Zeitlang anhören.

Schließlich erkundigte sie sich doch nach dem gestrigen Vortrag, und ich konnte sie endlich fragen, was sie über den Redner wüßte.

»Ach, weißt du, die hiesigen Dozenten kenne ich alle mehr oder weniger gut. Aber der ist ja nicht von hier, er hält höchstens einmal pro Semester einen Vortrag bei uns. Ich weiß eigentlich gar nichts über ihn.«

Natürlich bin ich nicht der Mensch, der selbst der besten Freundin seine verwirrten Gefühle gleich unter die Nase reibt.

Nichts wäre mir schlimmer, als mich lächerlich zu machen. Ich drückte mich recht vorsichtig aus, um mehr aus Beate herauszuquetschen.

»Ich kann ja mal rumfragen«, erbot sie sich schließlich, »sicher kennt ihn irgend jemand. Außerdem soll er mal ein Buch geschrieben haben.«

Am nächsten Tag war Samstag. Ich trat in eine Mannheimer Buchhandlung, vorsichtshalber nicht in die, in der ich sonst meine Bücher kaufe, und fragte nach dem Autor Rainer Engstern. Die Buchhändlerin blätterte in ihrem dicken Katalog.

Schließlich sagte sie, ja, den Autor Rainer Witold Engstern gebe es, und er hätte eine kleine Abhandlung über Malerei im vierzehnten Jahrhundert geschrieben, ob ich das Büchlein bestellen wolle. Das tat ich natürlich und konnte es am nächsten Dienstag abholen.

Inzwischen kam ich mir vor, als wäre ich wieder jung, nein geradezu pubertär geworden. Nur damals war ich so oft ins Phantasie ren geraten und hatte derart unrealistische Wünsche gehabt. Wurde ich jetzt kindisch?

Das ganze Wochenende verbrachte ich mit Trödeln, Lächeln, Summen und vor dem Spiegel. Ob ich mich wirklich zu alt zurechtmachte? Ich beschloß, mir etwas Hinreißendes zu kaufen, eventuell ein duftiges Sommerkleid mit weit schwingendem Rock. Ich hatte eigentlich immer nur gerade Röcke, strenge Kostüme und Hosenanzüge besessen, vielleicht sollte ich auf romantisch-verspielt setzen? Ob ich meine Frisur, die seit dreißig Jahren ein Garçonne-Schnitt war, abschaffen sollte? Aber wofür eigentlich? Ich kannte diesen Mann ja noch gar nicht und er mich erst recht nicht. Sicher war er verheiratet, hatte Kinder und einen völlig anderen Bekanntenkreis als ich.

Aber dieses Wahnsinnsgefühl, verliebt zu sein, hatte schon einen Wert an sich, denn ich hatte fest geglaubt, dazu nie mehr fähig zu sein.

Ich holte das bestellte Büchlein ab. Vielseitiger Mensch, dachte ich: Sein Vortrag hatte von romantischer Literatur gehandelt, in diesem Bändchen ging es dagegen um die reale Welt in der Malerei des vierzehnten Jahrhunderts. Vielseitig — oder neigte er zum Verzetteln? Hinten auf der Umschlagklappe war eine Kurzbiographie des Autors mit Foto. Toller Mann, dachte ich ohne Unterlaß. Er war drei Jahre jünger als ich, verheiratet, Lehrer, lebte in der Nähe von Heidelberg. Studiert hatte er Germanistik, Kunstgeschichte und Französisch.

Ich las die Broschüre zweimal. Der Verlag war mir unbekannt, die Auflage klein. Den Text fand ich gescheit, aber nicht wissenschaftlich, soweit ich das überhaupt beurteilen konnte. Wie schon erwähnt, interessiere ich mich nicht für Kunst, aber diese abgebildeten Pantoffeln, Leuchter, Stoffe und Gebäude waren eigentlich für jeden attraktiv anzusehen und die Ausführungen über den kulturellen Hintergrund interessant zu lesen. Sicher ein exzellenter Lehrer!

Frau Römer riß mich aus meinen Träumen. Sie war zur Vorsorgeuntersuchung gegangen und mußte schon in der nächsten Woche ins Krankenhaus, Verdacht auf Brustkrebs.

Sie war gefaßt und tapfer. Flehend sah sie mich an: Ich wußte schon, es ging um den Hund. Natürlich wäre ich sehr egoistisch gewesen, wenn ich ihr nicht sofort angeboten hätte, den Vierbeiner während ihres Krankenhausaufenthaltes aufzunehmen. Ich log sogar und behauptete, mich auf ihn zu freuen, da er mir die einsamen Stunden vertreiben würde. Im nachhinein stelle ich fest, daß vielleicht alles anders gekommen wäre, wenn ich damals nicht Frau Römers Spaniel gehütet hätte.

Wenn ich sonst vom Büro nach Hause komme, habe ich eigentlich keine Motivation, noch mal die Wohnung zu verlassen. Ich bade, ziehe mir einen Morgenrock an, wasche oder bügle vielleicht, mache mir ein Brot und lege mich vor den Fernseher. Nicht besonders aufregend, aber die meisten Menschen machen es wohl genauso. Der Hund war damit aber nicht zufrieden. Zwar wollte er auch heim, um zu fressen und zu saufen — schließlich hatte er ebenfalls den Tag im Büro verbracht —, aber dann meinte er wohl, ein Gewohnheitsrecht auf einen Spaziergang zu haben. Wenn er übers Wochenende bei mir war, ging ich regelmäßig mittags in den Park, am Abend hatte ich dazu wenig Lust. Nun kam mir ein abenteuerlicher Gedanke. Ich wälzte das Telefonbuch. Wo wohnte mein Rainer Witold Engstern? Oder sollte ich ihn nur Witold nennen? Ich blätterte anfangs vergeblich, doch schließlich wurde ich fündig. R. Engstern, Ladenburg — da hatten wir ihn ja. Mein Gott, das war jetzt ohne Berufsverkehr in einer Viertelstunde mit dem Auto zu erreichen. Ich fand sogar eine Ladenburger Straßenkarte und entdeckte schließlich auch seine Straße, etwas außerhalb der Altstadt. Der Hund sah mich fragend an. Ich fühlte mich jung und abenteuerlustig. Von meiner letzten Kur in Bad Saßbach besaß ich einen Jogginganzug, den ich sonst nie anzog. Also her damit, Hund angeleint, Treppe wieder runter, rein ins Auto und losgefahren!

Mit Herzklopfen sah ich die Doppeltürme der St. Gallus-Kirche in Ladenburg auftauchen. Ich bog in der Weinheimer Straße ab und parkte schließlich in der Trajan-Straße, das war nicht in unmittelbarer Nähe seines Hauses, sondern mindestens drei Blocks weiter. Dann stieg ich aus, ließ den Spaniel am Straßenrand schnüffeln und machte einen unauffälligen Hundespaziergang. Die Gegend, in der Witold wohnte, war jedenfalls sehr schön: bäuerliche Häuser, mäßig und zum Glück nicht gar so geleckt renoviert wie in der Altstadt. In der bewußten Straße standen Neubauten, und fast an ihrem Ende die Nummer 29, mit wildem Wein bewachsen. Natürlich konnte ich nicht einfach stehenbleiben und dieses Haus inspizieren. Es war noch hell; ich ging auf der gegenüberliegenden Straßenseite und hatte das Einfamilienhaus scharf im Blick. Kein Licht, es sah ein wenig verlassen aus, aber ein Auto stand vor der Tür. Mir klopfte mein verwegenes Herz immer weiter, als ob ich eine tollkühne Tat vollbringen würde. Ich ging das kurze Stück bis ans Ende der Straße und kehrte dann um. Auf der anderen Straßenseite — also seiner! — trat ich den Rückweg an und sah das Haus jetzt noch einmal aus einer neuen Perspektive. Fingerhut und Malven im Vorgarten, hinterm Haus ein leicht verwilderter Obstgarten. Das Nachbargrundstück war unbebaut. Ich ließ den Hund frei und erlaubte ihm, auf diesem Stück voller Brennesseln und Goldraute ein bißchen herumzustöbern. So konnte ich kurz stehenbleiben.

Der Hund wollte aber gar nicht mehr lange trödeln, also zogen wir gemeinsam Leine.