Plötzlich küßte er mich leicht auf die Stirn, sagte tschüs, er werde mich morgen anrufen. Es war nicht mehr die Rede davon, daß er mich heimfahren wollte.
Wieder einmal lag ich schlaflos im Bett. Bilder verfolgten mich: Beate auf dem Turm, Scarlett auf dem Stuhl, die junge Kitty neben Witold im Wagen.
Außerdem begann der Glanz um Witold in leiser Trauer zu verblassen, aber schließlich war er ein Mensch mit Fehlern und ich kein Backfisch, der einen Mann schwärmerisch idealisiert.
Ich hatte genug Lebenserfahrung, um die liebenswerten Schwächen eines Menschen zu akzeptieren. Eitel war mein Held, das hatte ich schon früh bemerkt, und geltungsbedürftig.
War er mit mir allein, konnte er muffig, aber auch fürsorglich sein, erst in Gesellschaft wurde er spritzig. Daneben fiel mir eine gewisse Launenhaftigkeit und latente Hypochondrie auf — nun, damit ließ sich leben.
Zu seinem Freund Ernst Schröder hatte er ein kumpelhaftes, zuweilen rivalisierendes Verhältnis: Der gemütliche Apotheker war nicht zu unterschätzen; er tat zwar so, als könne er kein Wässerchen trüben, aber er schien sich doch stets durchzusetzen. Seine Frau behandelte ihn nicht gut, spottete häufig über ihn und machte ihn geradezu lächerlich, aber trotzdem schien auch sie ihm letzten Endes zu gehorchen.
Auch zu Witold war sie ehrlich bis zur Schamlosigkeit. Auf mich wirkten die Scharmützel dieser beiden Wortgewandten spannungsgeladen; da glomm ein Funken, der leicht zu Feuer werden konnte.
Scarlett und Vivian: Zwei Paradiesvögel, war das Witolds Geschmack? Kitty und ich, wir waren ganz bestimmt die Antagonisten dazu, die Aschenputtel. Im Märchen bleiben die Pechvögel die Sieger. Wie aber ist es im Leben?
Gegen Morgen schlief ich erst ein und träumte einen sehr plastischen Traum. Ich lag in meinem Bett, das dringend frisch bezogen werden mußte. Auf dem Kopf trug ich Lockenwickler von großer Scheußlichkeit, wie ich sie in meiner Jugend benutzt hatte, auf dem Gesicht eine Kräutermaske. Gekleidet war ich in das übelste aller Nachthemden, von dem ich mich schon längst getrennt hatte. Der Raum war ungelüftet, Geschirr mit verkrusteten Essensresten stand auf dem Boden, der Spiegel war von Fliegenkot gesprenkelt.
Ich, Rosemarie Hirte, war im Begriff des Verfaulens, obgleich ich mit Wicklern und Creme dagegen ankämpfte.
Die Tür flog auf: Witold, Ernst, Kitty, Scarlett, Hilke, Beate und Vivian tänzelten herein, alle in modischer Freizeitkleidung, gebräunt (bis auf Vivian) und sportlich, lustig und erfolgreich.
»Wir haben dir etwas mitgebracht«, sagte Witold, der Samariter, und krönte mich mit einem Kränzlein aus Rosmarin.
Das war zuviel, ich murmelte qualvolclass="underline" »Ho…«, »ho…«, und kam nicht auf das Zauberwort, »hoppla«, so wie Kalif Storch nicht auf »mutabor« und Ali Babas Bruder nicht mehr auf »Sesam, öffne dich« gekommen waren. Aber Kitty half mir, kniete sich neben mich und flüsterte in mein Ohr das rettende »Hoppla!« Ich sprach es laut, worauf sechs Köpfe unter mein Bett rollten. Kitty, die zum Lohn heil geblieben war, lüftete gründlich, ergriff einen Besen und fegte die Stube rein.
Die Häupter, die sie wie faules Obst mit dem altmodischen Reisigbesen vor sich her trieb, hatten ihr braungebranntes Aussehen schlagartig verloren und zeigten die angemessene Leichenblässe, nur Vivians im Leben so morbider Kopf blühte blutrot auf. Auch der Tau auf meinem Rosmarinkranz perlte in klebrigen Blutstropfen auf meine Stirn und rann als feurige Spur über mein gecremtes Gesicht.
Mit einem gräßlichen Schrei wachte ich auf.
8
Trotz dieses unguten Vorzeichens — denn als solches empfand ich den Traum — trat ich die gemeinsame Fahrt an. Wir starteten mit zwei Autos und ohne das pflichtvergessene Ehepaar Mommsen.
Ich hatte meinen Wagen in Ladenburg vor Witolds Haus stehen lassen, dann fuhren wir nach Schriesheim, um Kitty abzuholen. Da Schröders noch nicht fertig gewesen waren, mußten wir nun wieder zurück nach Ladenburg, um im Konvoi mit ihnen zu starten. Witold war über diese Verzögerung leicht verdrossen.
Beim Kofferpacken hatte ich Witolds ursprüngliche Rucksack-Liste nochmals eingehend studiert. Gegenstände wie Feldflasche, Fahrtenmesser, Hüttenschuhe und Trainingshosen fehlten völlig in meiner Aussteuer, waren aber nun wohl nicht mehr nötig. Auf alle Fälle hatte ich sowohl den Jogginganzug als auch den Seidenpyjama im Koffer. Ich hatte nicht gewagt, nach der Zimmerverteilung zu fragen. Aber bald erfuhr ich, daß man praktischerweise ein Doppelzimmer für Schröders, eins für Kitty und mich und ein Einzelzimmer für Witold bestellen wolle, falls mir das recht sei. Ich fand es taktlos zu sagen, daß ich auch lieber ein Einzelzimmer hätte, weil ich Kitty nicht kränken wollte.
Am frühen Mittag fuhren wir los, am späten erreichten wir Wissembourg. Die Suche nach einer Bleibe begann.
Witold hatte natürlich einen Hotelführer dabei, aber seine angekreuzten Quartiere waren bereits ausgebucht. Da meldete sich Ernst Schröder zu Wort, der eine Geheimadresse wußte, allerdings nicht in Frankreich, sondern gleich an der Grenze auf der deutschen Seite. Dort kamen wir ohne weiteres unter; man konnte zu Fuß in einer Viertelstunde nach Wissembourg wandern und dort am Abend der französischen Küche huldigen.
Ich packte den Koffer aus. Vom Fenster konnte ich direkt auf Weinberge schauen. Ein ganz leichter Regen hatte eingesetzt, aber es war für die Jahreszeit noch erstaunlich warm. Wir beschlossen, erst einmal Kaffee und frischen Apfelkuchen zu bestellen. Gutgelaunt wollten wir anschließend den Regen mißachten und, mit geeigneter Kleidung ausgerüstet, unsere Beine in Bewegung setzen.
Ich nahm einen Schirm mit, Scarlett auch. Die anderen trugen ihre Regenjacken.
Witold sammelte Walnüsse und Roßkastanien, von denen er großzügig einige an mich und Kitty verschenkte, obgleich sie auch uns ständig vor die Füße fielen. Scarlett lehnte die Gabe ab.
»Männer sind und bleiben infantil«, vermerkte sie, »weil ich ihm verboten habe, Pfadfinder zu spielen, will er heute abend bestimmt zum Trost aus Kastanien und Streichhölzern Männchen basteln.«
»Stimmt ganz genau«, pflichtete ihr Witold bei, »du bist doch die Klügste von allen.«
Ich hielt die glatte, pralle Kastanie im Inneren der Jackentasche in meiner Hand und gedachte, sie zur ewigen Erinnerung aufzuheben.
Witold machte den Stadtführer, als Französischlehrer mochte er schon mit so mancher Klasse hier gewesen sein. Er kannte sich aus, zeigte uns malerische Foto-Ausblicke entlang der Lauter, sprach über die Geschichte der Stadt inklusive sämtlicher Katastrophen und beendete den Rundgang mit der Besichtigung der Kirche Saint-Pierre-et-Saint-Paul.
Wahrscheinlich hätte sein Programm noch stundenlang weiterlaufen können, wenn die Schröders nicht von Anfang an darauf gedrungen hätten, spätestens um acht vor einem gedeckten Tisch zu sitzen. Ernst Schröder meinte, er wolle an diesem ersten Abend alle einladen und dafür ein wenig gutmachen, daß seine Frau und er bremsend auf die geplanten Wanderfreuden eingewirkt hätten.
Da wir gegen die Einladung nichts einzuwenden hatten, bestimmte er nun als Gastgeber für alle ein einheitliches Essen: Nach der Gänseleber gab es Fasan auf Sauerkraut und am Schluß frischen Gugelhupf; die Rieslingflasche konnte vom Ober kaum schnell genug erneuert werden. Witold hatte gleich am Anfang in unerhört elegantem Französisch den Kellner um die Karte gebeten, aber eine bodenständig alemannische Antwort erhalten.
Das Essen zog sich stundenlang hin. Sowohl an unserem als auch an den Nachbartischen wurde immer lauter gesprochen und herzlicher gelacht. Am Nebentisch, wo anfangs zwei Ärzte über nichts anderes als über die sinkende Zahl ihrer Krankenscheine geklagt hatten, während ihre Ehefrauen ihre Langeweile nicht verhehlten, war inzwischen eine solche Heiterkeit ausgebrochen, daß wir hin und wieder lauschen mußten. Der eine Mediziner war Zahnarzt und erzählte sehr komisch, wie er in jungen Jahren eine Leiche anhand ihres Gebisses datieren sollte. Dabei stellte er fest, daß der Tote eine Prothese hatte. Anhand der Verschleißerscheinungen des Kiefers konnte er trotzdem eine ziemlich genaue Altersangabe nachweisen.