»Wie kann man über so ein makabres Thema Witze machen?« entrüstete sich Kitty mit roten Wangen. Aber Ernst und Scarlett konnten vor Lachen nicht an sich halten, weil zwar nicht die Geschichte selbst komisch war, sie jedoch so zwerchfellerschütternd dargeboten wurde.
Witold und ich fixierten uns mit bitterem Blick. Leichen als Dessert-Gespräch waren uns nicht genehm. Witold mahnte zum Aufbruch. Man müsse noch ein Stück laufen, und zwar bei Regen und Dunkelheit. Morgen wolle man schließlich früh aufstehen und wandern.
Scarlett sagte spöttisch: »Im Frühtau zu Berge! Mich wirst du vor zehn Uhr bestimmt nicht zu Gesicht kriegen!«
Ernst Schröder meinte, da man bis zehn Frühstück bekäme, wäre es am besten, wenn wir uns alle auf elf Uhr für den Start einstellen würden. Witold seufzte: »Hakim, du bist unverbesserlich«, aber er gab nach.
Das Zimmer, das ich mit Kitty teilte, hatte Dusche und Klo.
Ich ließ ihr den Vortritt, da ich am Abend eine gründliche Reinigung betreibe und dafür Zeit brauche. Kitty war in fünf Minuten fertig. Sie trug einen rosa Kinderschlafanzug und rieb sich, auf dem Bett hockend, heftig das Gesicht mit Nivea-Creme ein. Dabei schwatzte sie angeregt, der Wein und das gute Essen hatten sie munter gemacht. Ich verschwand nun meinerseits im Bad, beschloß aber, mein seidenes Verführungsneglige nicht für Kitty zu verschwenden. Als ich endlich ins Bett stieg, las Kitty noch, gähnte aber herzhaft dabei. »Wir sind eine nette Crew«, sagte sie, »ich freue mich auf morgen.«
Auf dem Programm stand eine Wanderung zu den Ruinen der Burg Fleckenstein. »Zum Eingewöhnen«, hatte Witold gesagt. Der Regen hatte aufgehört, und wir liefen durch herbstliche Wälder und Wiesen ohne sonderliche Strapazen.
Witold wollte hin und wieder von Ernst den Namen eines Pilzes wissen, sein Freund sagte aber meistens lakonisch »toxisch« oder »atoxisch«. Im übrigen bildeten sich keine festen Gruppen, Witold sorgte unermüdlich wie ein Hirtenhund dafür, daß die Karawane zusammenblieb.
Scarlett fragte mich neugierig über meinen Beruf aus. Ich gab ihr gern Auskunft. Bislang hatte sich noch niemand dafür interessiert. Aber dann nervte sie mich ausgiebig mit den noch unausgegorenen Berufswünschen ihrer Kinder. Ein wenig interessant war nur die Klage über ihren vielversprechenden Oleg, daß er in punkto Frühreife seinem Papa nachschlagen würde, der in jungen Jahren auch ein rechtes Früchtchen gewesen sei. Ich konnte mir das kaum vorstellen.
Einmal sprach sie auch von Hilke Engstern, mit der sie gut befreundet gewesen war.
»Was war diese Hilke eigentlich für ein Mensch?« wollte ich wissen.
»Ein wenig resigniert neben diesem Ausbund an Charme«, sagte Scarlett, »Rainer muß ja immer im Vordergrund stehen.
Aber sie war sehr klug und eine Persönlichkeit, vielleicht etwas zu empfindlich. Man mußte immer auf der Hut sein, im Nu hatte man sie beleidigt und wußte gar nicht, wieso.«
Nun, ich konnte mir gut vorstellen, daß Pamela Schröder so manchen beleidigt hatte, denn sie hielt mit ihrer Meinung nie hinterm Berg.
»Rainer und ich…«, begann sie wieder, bremste sich plötzlich und meinte dann: »Jetzt habe ich den Faden verloren.«
Ich haßte sie.
Auf der Burg Fleckenstein gab es eine Führung, von einem deutschsprachigen Veteranen nach alter Tradition gemeistert; er warf mit Zahlen um sich, aber diese Längen-, Breiten- und Höhenangaben langweilten; Witold hätte es sicher besser gemacht.
Dieser erste Tag verlief harmonisch, das freundliche Herbstwetter trug einen Teil dazu bei. Unsere Wanderung dauerte vier Stunden, ich fand es erträglich. Am Nachmittag wurde eine kleine Siesta eingebaut, ein zweiter Bummel durch das Städtchen folgte und das abschließende gute Essen.
Diesmal gab es Coq au Riesling, eine Quiche lorraine vornweg, Sorbet hinterher und viel Wein dazu. Ich hatte kräftiger zugelangt als am Abend vorher, denn der ungewohnte Aufenthalt an der frischen Luft hatte mir Appetit gemacht.
Außerdem war ich, seit ich in Witold verliebt war, immer magerer geworden, so daß ich mir vornahm, mich zu vermehrter Nahrungsaufnahme zu zwingen.
Aber ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. In der Nacht wurde mir schlecht, ja mehr als das, sterbenselend. Ich wagte nicht, mir in der Hotelküche eigenmächtig einen Tee zu kochen. Schließlich mußte ich mich von dem delikaten Abendessen unter qualvollem Würgen wieder trennen, und mir wurde etwas besser. Schlafen konnte ich indes immer noch nicht. Ich war außerdem nicht gewöhnt, einen fremden Atem neben mir zu hören. Nicht etwa, daß Kitty unruhig schlief. Wie ein kleiner Zinnsoldat lag sie da, stramm und gerade ausgestreckt, ohne im Traum zu zappeln oder mit dem Federbett zu rascheln. Erst gegen vier Uhr schlief ich ein.
Aber schon kurz nach sieben klopfte es leise an unsere Tür.
Ich war sofort hellwach, auch Kitty reagierte prompt. Witold steckte seinen Kopf herein. Nur an der Flüsterstimme konnte ich ihn erkennen. »Ich mache jetzt einen Morgenspaziergang, will jemand mitkommen? Bis zum Frühstück um zehn sind wir längst wieder da.«
Nein, dachte ich, nicht um sieben in der Früh! Schließlich habe ich Urlaub und eine schlechte Nacht hinter mir! Ich schüttelte den Kopf. Bei aller Liebe- das ging zu weit. Aber Kitty willigte fröhlich ein.
»Warte unten fünf Minuten, ich putze mir nur die Zähne und fahre in meine Klamotten!« In Windeseile war sie fertig, fix und leise, und weg.
Aber wie soll man wieder einschlafen nach solcher Unterbrechung? Es war noch gar nicht richtig hell draußen.
Vom Fenster aus sah ich die beiden mit großen Schritten über den tauigen Rasen zur Landstraße gehen.
Ich gähnte mehrmals, machte das Nachttischlämpchen an und griff nach meiner Wirtschaftszeitung. Aber zum ersten Mal im Leben fand ich sie stinklangweilig. Was sollten diese toten Zahlen, wenn man es mit lebendigen Menschen zu tun hatte? – Und mit toten.
Was las Kitty? Einen Bestseller in englischer Sprache. Ich war beeindruckt. Wieder einmal empfand ich mich als alt, ungebildet, spießig und langweilig.
Ich ging mir die Zähne putzen. Kittys kosmetische Ausrüstung war karg, keinerlei Make-up oder Malgeräte standen ihr zur Verfügung. Eine Dose mit Mandelkleie, eine Honigseife und eine Meersalz-Zahnpasta. Wie alt mochte sie sein? Ich öffnete ihre Nachttischschublade: Portemonnaie und Ausweis lagen vertrauensselig vor mir ausgebreitet. Na, doch schon fünfunddreißig, las ich erstaunt. Ich sah nach ihrem Gepäck. Kitty kam mit einer bemerkenswert kleinen Reisetasche aus. Unterwäsche, zwei weiße Blusen, ein zweites Paar Jeans, ein zweiter Pullover, Socken — das war’s. Ich hatte gut und gern die vierfache Menge mitgenommen.
Nun war ich richtig wach, ging unter die Brause, zog mich an. Erst halb neun. Ich trat auf den Flur. Neben unserem lag Witolds Zimmer, der Schlüssel steckte. Kein Mensch zu sehen.
Ich trat leise ein, um auch hier ein wenig zu kundschaften. Was hatte Witold für Zahnpaste?
Als erstes sah ich aber einen vollen Aschenbecher neben dem Bett. Pfui, dachte ich, du bist mir der Rechte! Nachts wird gequalmt, und tags machst du auf Naturmensch und Wandervogel. Auf dem Bett lag ein zerknäulter dunkelblauer Schlafanzug. Wenigstens das Fenster hätte er aufmachen sollen, fand ich. Vorm Waschbecken lag eine ausgefranste Zahnbürste, Rasierkram und ein billiges Aftershave. Auch hier öffnete ich die Nachttischschublade, aber ich spürte dabei eine ängstliche Erregung, die sich zusehends steigerte. Dieses Gefühl hatte ich früher gehabt, wenn ich Witold vom dunklen Garten aus beobachtete. Ein süchtiges Drängen voll Sehnsucht, Furcht und Kraft.
Ein Foto in der Brieftasche: Es schien Hilke mit den Söhnen zu sein, wohl vor einigen Jahren aufgenommen. Hilke lachte, ihr schwarzes Haar glänzte, und sie sah sehr anders aus als damals, als ihre grüne Bluse vom auslaufenden Blut dunkel wurde. Der eine Sohn — wohl der ältere — sah ihr auffallend ähnlich. Ich hatte Witolds Kinder noch nie gesehen und betrachtete sie gierig, aber ohne Zuneigung.