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Ein Brief von Vivian, allerdings schon vier Wochen alt. Ihre Handschrift war kaum zu lesen, der Text erging sich in Andeutungen und sprunghaften Assoziationen, mit denen ich nichts anfangen konnte. Nur der Schluß war klar: LOVE, YOURS EVER VIVIAN. Auch die Anrede vermochte ich schließlich zu entziffern: »Geliebter Pharisäer!«

Solche Briefe konnte ich nie und nimmer schreiben, englische Bücher konnte ich nicht lesen, Brechtlieder konnte ich nicht singen, und Kinder konnte ich schon gar nicht mehr kriegen.

Noch einmal starrte ich auf den Aschenbecher, das muffige Bett und die schweißigen Socken auf dem Teppichboden. Wie seltsam hatte es die Natur eingerichtet, daß die Menschen fähig waren, über solche ekelhaften Details hinwegzusehen, und sogar versessen daraufwaren, ein solches Nachtlager zu teilen.

»Hast du Lust, in dieses Bett zu kriechen, Rosi?« fragte ich mich. Meine Zweifel waren groß. Zum ersten betrafen sie meine Empfindlichkeit gegen Gerüche und meine Abneigung gegen Entblößungen, zum anderen meine Ängste, den Erwartungen eines Mannes nicht gerecht zu werden. Liebte ich Witold wirklich?

Ich ging wieder in mein Zimmer, legte mich mit Kleidern aufs Bett und nahm meine Zeitschrift. Aber statt zu lesen, starrte ich an die Decke.

Die Tür wurde aufgerissen. Kitty wehte herein, Frische im Gesicht und Begeisterung in den Augen. »Es war sooo schön«, sagte sie herzlich, »morgen mußt du unbedingt auch mitkommen!«, und sie drückte mir eine geknickte lila Aster und eine späte rosa Rose in die Hand. »T’is the last rose of summer«, sang sie und warf dabei Stück für Stück ihrer Kleidung aufs Bett. »Hab’ doch noch gar nicht gebraust«, sagte sie, schon nackt. Zutraulich blieb sie vor meinem Bett stehen:

»Morgens ist es am schönsten, Nebel steigt aus den Wiesen, Herbstzeitlosen blühen, im Dorf wird die Milch zur Sammelstelle gefahren. Und diese herrlichen Bauerngärten, sooo große Dahlien…«, zeigte sie mit beiden Händen.

Ich mußte sie gegen meinen Willen ansehen, denn ich habe große Scheu vor Nacktheit. Kitty, die Unauffällige, das mußte wohl jeder zugeben, sah unbekleidet wunderschön aus. Ihr Körper war kräftig, dabei aber schlank, und strahlte eine natürliche Lebensfreude aus. Singend hopste sie unter die Dusche. Was machte sie so glücklich?

Ich beschloß, nicht zu weinen. Kitty war schließlich mit fünfunddreißig Jahren immer noch ledig; sollte ich sie beneiden, sie hassen? Das wäre verschwendete Energie.

Einer Schicksalsgenossin tut man nichts an. Hassen mußte ich eine andere Art von Frauen: die Mütter.

Beim gemeinsamen Frühstück klärte uns Witold auf, daß Kitty heute Geburtstag hatte. Der Grund für ihre Fröhlichkeit war also nicht eine Liebeserklärung von Witold — ich ärgerte mich, daß ich beim Nachlesen in ihrem Ausweis nur auf das Geburtsjahr geachtet hatte. Witold hatte Kittys Kaffeetasse mit Efeu und roten Hagebutten garniert. Sie sollte bestimmen, wie der Tag heute verlief.

»Toll!« sagte die bescheidene Kitty strahlend, »dann wünsche ich mir, daß wir ein Stück weiterfahren, ein neues Hotel suchen und ein anderes Stückchen Elsaß anschauen.«

»Stadt und Kultur oder Land und Natur?« fragte Ernst.

»Natur!« verlangte Kitty, »ein bißchen Dörfer mit Gärten, und vor allem gutes Essen.«

»Na, so anders war es bisher ja nicht«, meinte Scarlett, »wir haben nicht gerade gedarbt bis jetzt!«

Wir fuhren also los, und Kitty, die vorn neben Witold saß, durfte wie ein Fahrlehrer »rechts«, »links« und »stop« sagen.

Sie wählte allerkleinste Straßen, begeisterte sich für Bauernhäuser, entdeckte einen Storch und hieß uns nach zwei Stunden in einem kleinen Dorf nach einer Herberge suchen.

Hier wolle sie bleiben und nirgendwo anders. Die Herberge an der Hauptstraße hatte nur ein Zimmer frei, verwies uns aber an ein ehemaliges Gutshaus, das jetzt als Hotel umgebaut sei. Es war schwer zu finden, aber traumhaft schön.

»Wenn wir hier was kriegen«, sagte Kitty kindlich, »dann habe ich ein ganzes Jahr lang Glück!«

Sie hatten zwei Doppelzimmer frei, aber in das eine könne man noch ein Zusatzbett schieben.

»Abgemacht!« rief Kitty.

»Ja doch«, sagte Ernst Schröder, »dann gibt es halt ein Buben- und ein Mädchenzimmer.«

Das Haus war uralt, mit sehr dicken Wänden und einer breiten Außentreppe. Die grünen Schlagläden verwitterten allmählich oder fehlten ganz; unsere Zimmer lagen im ersten Stock, es gab noch einen zweiten. Zum Essen mußte man über einen gepflasterten Hof gehen, denn im ehemaligen Gesindehaus war das kleine Restaurant untergebracht.

Wir drei »Mädchen« hatten das größere Zimmer. Ich saß auf dem breiten Fensterbrett und hatte das Restauranthäuschen im Blick. Fünf Katzen hatten sich vor der Tür versammelt. Sobald sie von außen geöffnet wurde, flitzten sie wie die Irrwische hinein. Wenige Minuten später wurde die Tür von innen geöffnet, ein Koch trat auf die Schwelle und warf die Katzen allesamt, eine nach der anderen, die Stufen hinunter. Das hinderte sie jedoch nicht daran, sich zu sammeln und mit dem nächsten Gemüsehändler oder Metzger erneut durchzuschlüpfen.

Nachdem wir die hübschen herbstlichen Bilder genug bewundert hatten, wurde die heutige Wanderung in Angriff genommen. Der Garten des Weingutes stand voller Sonnenblumen. Hunde und Kälber, Kinder und Winzer wuselten herum. Kitty freute sich wie eine Schneekönigin.

Der Koch lief uns nach. Ob wir heute abend Baekaoffa wünschten.

»Ja!« sagte Kitty.

Ich fragte schüchtern, was das wäre, denn mein Magen war nach dieser Nacht immer noch hochempfindlich. Der Koch sprach von Schweineschwanz, Hammelschulter und Rinderbrust, die er mit Kartoffeln, reichlich Zwiebeln und Knoblauch, Gewürzen und viel weißem Pinot stundenlang in einer irdenen Terrine in den heißen Ofen stellen würde. Meine Wanderkameraden begeisterten sich schon beim Zuhören.

Sollten sie sich nur immer ihren Schweineschwanz zu Gemüte führen, ich würde mir einen Haferbrei bestellen.

Auch das Wandern machte mir heute nicht viel Spaß. Ich hatte Magenkrämpfe. Zum Frühstück hatte ich nur Tee getrunken, und eigentlich wäre ich am liebsten im Hotel in diesem urgemütlichen Bauernbett geblieben, hätte das Fenster weit aufgemacht, ein wenig gedämmert und auf die fremden Laute von Mensch und Tier draußen gelauscht. Aber sollte man mich für eine alte Ziege halten, kränklich, säuerlich, eine Spielverderberin? Ich biß die Zähne zusammen und lief und lief…

Schließlich kam ich mir wie ein napoleonischer Krieger vor, der durch Rußlands endlose Steppen und Sümpfe marschiert, den sicheren Tod vor Augen.

Keiner merkte mir etwas an. Aber als ich drei Stunden lang nur »ja« und »nein« gesagt hatte, schaltete der stets pflegefreudige Witold schließlich doch, daß der Soldat Thyra nicht ganz auf dem Posten war. Ich gab zu, das gestrige Essen nicht vertragen zu haben. Witold holte aus seiner Anoraktasche einen Flachmann.

»Trink ein Schlückchen, das hilft!«

Weil er es war, der mir die scharf riechende Flüssigkeit unter die Nase hielt, gehorchte ich. Es war ein scheußlicher Kräuterschnaps, der aber wirklich half.

»Nun?« fragte er gespannt und wartete auf eine Erfolgsmeldung. Ich nickte matt.

»Paß auf«, sagte er, »wir steuern jetzt eine Straße an, dort winke ich einem Auto, und du fährst zurück ins Hotel!«

Wider Erwarten klappte es. Ein Lieferwagen voller Farbeimer und Malerutensilien hielt sofort an. Witold konnte nun auch sein perfektes Französisch an den Mann bringen und erklären, daß Madame von einem heftigen Unwohlsein befallen sei.

»Dann fahre ich auch mit«, sagte Scarlett plötzlich, »wenn ich noch mal drei Stunden zurücklatschen soll, dann wird mir das auch zuviel!«

Sie tat dem Fahrer gegenüber so, als wolle sie mich Schwerkranke betreuen, kletterte hinten hinein und setzte sich auf eine farbverschmierte Leiter. Sie winkte den anderen königlich zu, während ich mich unendlich erleichtert neben dem Fahrer auf den Sitz fallen ließ.