Scarlett plauderte in gräßlichem Französisch und unter heftigem Gestikulieren mit dem Fahrer, der durch seinen Rückspiegel mit ihr in Blickkontakt stand. Obgleich mir ihre vielen Fehler auffielen, wäre ich doch nie imstande gewesen, mich in dieser Sprache zu unterhalten. Als wir ankamen und uns bedankt hatten, sagte Scarlett: »Leg du dich mal gleich ins Bett, ich geh’ noch einen Kaffee trinken«, und verschwand im Restaurant.
Mir war es sehr recht. Frierend zog ich die Wanderkluft aus, den mausgrauen Jogginganzug an und das Federbett über die Ohren. Zehn Minuten später klopfte es. Ein kleines Mädchen von circa zehn Jahren trat mit wichtigem Gesicht an mein Bett, präsentierte mir in einem Körbchen eine Wärmflasche und erklärte, das schicke mir ihre Mutter. Ernsthaft nickte sie und verließ mich; natürlich konnte das bloß Scarlett organisiert haben. Das hätte ich diesem kaltschnäuzigen Vamp nicht zugetraut.
Etwas später kam sie selbst, auf einem Tablett trug sie Tee und Zwieback.
»Du mußt was in den Magen kriegen, sonst stehst du unsere Feier heute abend nicht durch«, sagte sie mit mütterlicher Strenge. Kritisch musterte sie mich.
»Große Passion für Schusters Rappen scheinst du im Gegensatz zu Kitty nicht zu haben. Wahrscheinlich bist du nur wegen seiner blauen Augen mitgekommen!«
Ich trank den Tee, mummelte etwas Zwieback und schlief kurz danach fest ein.
Gegen sieben Uhr wurde ich durch Flüstern wach, das schärfer in mein Unterbewußtsein eindrang, als es normale Lautstärke getan hätte. Scarlett lackierte sich die Krallen.
Kitty fragte: »Haben wir dich wachgemacht? Wie geht es dir denn?«
Mir ging es tatsächlich viel besser, ich bin ja eine zähe Natur. Ich setzte mich auf und fragte, wann denn gefeiert würde.
»Erst machen wir uns schön, Mädels!« sagte Scarlett und imitierte den Ton einer Turnlehrerin aus vergangenen Zeiten.
Ihre roten Haare waren frisch gewaschen und gelockt.
Kitty wühlte in ihrem Reisetäschchen und nahm eines der weißen Baumwollblüschen heraus. Scarlett pfiff.
»Hast du nichts anderes? Du wirst doch heute fünfunddreißig, da mußt du ausnahmsweise mal als Erwachsene auftreten!«
Kitty nahm nichts übel.
»Ich hab’ weder hier noch zu Hause eine Diva-Ausrüstung!«
Scarlett prüfte nun den Bestand ihres eigenen Koffers und holte eine schwere goldbraune Samtbluse heraus.
»Probier die mal, zu meinen roten Haaren paßt die Farbe gut, aber zu blond vielleicht noch besser. Ist ein teures Stück!«
Kitty zog das teure Stück an und sah bezaubernd aus.
Scarlett war neidlos hingerissen. »Ich schenke sie dir zum Geburtstag«, sagte sie großzügig.
Mich beeindruckte diese verschwenderische Geste, sie war meinem Wesen sehr fremd. Aber wegen der Bemerkung über Witolds blaue Augen hatte ich eine heftige Wut auf Scarlett.
Kitty zierte sich überhaupt nicht, die teure Bluse anzunehmen. Sie umarmte und küßte Scarlett und posierte eine Weile vor dem Spiegel. Schließlich wurde ich von den beiden angesteckt, denn auch Scarlett zog Kleidungsstücke an und aus und schubste Kitty übermütig vom Spiegel weg. Ich verließ also das gute Bett und den wärmenden Jogginganzug und machte mich schön. Als wir schließlich zu den Männern stießen, glänzte Kitty in Goldbraun, Scarlett in Smaragdgrün und ich in Hellblau; dazu trug ich Frau Römers Brosche.
Im Lokal saß mir Ernst Schröder gegenüber. Wie gebannt starrte er meine Brosche an, während Kitty und Witold von der Fortsetzung der Wanderung ohne uns Schlappmacher erzählten.
»Woher hast du diese Brosche?« fragte er und musterte mich kalt. Ich wollte nicht die ganze Story von Frau Römer preisgeben.
»Gekauft«, erwiderte ich kurz.
»Wo?«
»Auf einer Antiquitätenmesse«, log ich.
Ernst streckte die Hand aus: »Kann ich sie mal von nahem sehen?«
Ich nestelte das schwere Ding ab und gab es ihm.
Er betrachtete die Brosche eingehend.
»Seltsam«, sagte er.
»Was ist denn so seltsam?« fragte ich, während Zusammenhänge nebelhaft in mir auftauchten.
»Ach nichts«, meinte er, »meine Mutter hatte just die gleiche Brosche, haargenau dieses schwarze Hermesprofil.«
Witold mischte sich ein, nahm die Brosche ebenfalls prüfend in die Hand.
»Ende neunzehntes Jahrhundert«, schätzte er, »vermutlich noch von der Generation unserer Großeltern. Wer hat denn die Brosche deiner Mutter geerbt?«
»Sie wurde gestohlen, meine Mutter war untröstlich. Sie wollte sie ihrer ersten Enkelin vererben, ich habe ja keine Schwester. Nun, das wäre meine Tochter gewesen. Aber meine Mutter starb, bevor Annette geboren wurde, und die Brosche war längst nicht mehr da.«
Der Baeckaoffa wurde, würzig duftend, auf den Tisch gebracht. Alle griffen kräftig zu. Witold bestimmte, daß ich mir ein paar der Kartoffeln zerquetschen solle, ohne den köstlich eingedickten Weinsud. Ich aß auch ein paar Happen und übersah geflissentlich, wie sich Kitty und Ernst den ekligen Schweineschwanz teilten.
Es wurde getafelt und gebechert wie an den letzten zwei Abenden, die Stimmung war überaus heiter. Ernst Schröder hatte einen unerhörten Durst. Obgleich er wie ein Scheunendrescher über den Baeckaoffa herfiel, war er doch nach zwei Stunden sichtbar angetrunken und sehr redselig.
»Wenn ich die heutige Jugend sehe — speziell meinen vielversprechenden Filius —, dann muß ich vor Neid ganz blaß werden. Was der mit achtzehn Jahren schon alles an Frauen verschlissen hat, das kann ich in meinem ganzen Leben nicht mehr aufholen!«
Scarlett warf ihm einen skorpionhaften Blick zu.
»Mit siebzehn hatte ich mein erstes erotisches Abenteuer, aber dann lange nix mehr. Das war aber damals ganz ungewöhnlich früh«, sagte er angeberisch, »beim Anblick von Thyras Brosche fällt mir alles wieder ein!«
»Erzählen!« rief Witold lustig.
Scarlett zischte: »Du wirst geschmacklos, Ernst.«
»Also, das war schon ein dolles Ding«, fuhr Ernst unbeirrt fort, »ich war ein reichlich verklemmter Schüler, so wie wir das in den fünfziger Jahren alle waren. Eines Tages sprach mich auf dem Heimweg von der Schule eine junge Frau an, weil sie eine bestimmte Straße suchte. Es war zufällig die, in der ich wohnte. Noch größer war der Zufall, daß sie zu den Leuten im Souterrain unseres Mietshauses wollte. Dort war aber keiner zu Hause. Meine Eltern waren für drei Tage verreist. Ich bat das fremde Fräulein zu uns herein, damit sie einen Zettel für diese Leute schreiben konnte.«
Wir waren alle ganz Ohr.
»Ein Roman, den das Leben schrieb«, spöttelte Witold.
»Weiter«, bat Kitty.
Scarlett hatte es aufgegeben, ihren Mann unter dem Tisch zu treten.
Ernst, der große Don Juan, genoß sichtlich unsere Aufmerksamkeit.
»Ob ihr es glaubt oder nicht, ich — der völlig Unerfahrene — habe die noch viel Unerfahrenere gleich bei diesem ersten Zusammentreffen verführt!«
»Ich bin sprachlos!« sagte Witold, »Hakim, wenn du nicht lügst, bist du ein unerhörter Schwerenöter!«
Scarlett kniff jetzt Witold in den Unterarm.
»Du hast es gerade nötig, ihn dafür auch noch zu loben!«
»Wie ging es weiter?« wollte Kitty wissen.
»Meine Geliebte war mindestens acht Jahre älter als ich, damals hatte eine unverheiratete Frau über fünfundzwanzig wahrscheinlich schon Komplexe und Torschlußpanik.« — Ernst lächelte Kitty charmant an, um wiedergutzumachen, daß diese Bemerkung nicht besonders taktvoll war.
»Na ja, um es kurz zu machen: Wir liebten uns inbrünstig und bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ich grüner Junge wollte sie natürlich heiraten. Aber um auf die Brosche zu kommen — ich klaute sie meiner Mutter und schenkte sie meiner Angebeteten als Liebespfand.«
»Und was ist aus der Frau geworden?« wollte Kitty wissen.
Ernst betrachtete die Brosche mit abwesendem Blick.
»Ich weiß es nicht. Sie zog plötzlich weg, schrieb mir einen Abschiedsbrief und hinterließ keine Adresse. Ich junger Spund kriegte nie heraus, wo sie hingegangen ist.«