»Meinst du denn, das ist die Brosche deiner Mutter?« fragte Witold.
»Mit Sicherheit wird man das nicht feststellen können, obgleich man bei so einem ausgefallenen Stück schon glaubt, daß nicht viele von dieser Sorte existieren.«
Witold nahm die Brosche wieder in die Hand. Auf einmal sah er Scarlett spitzbübisch an.
»Was meinst du, was ein richtiger Junge in seiner Hosentasche hat?«
Sie rümpfte die Nase: »Pfui Teufel, jetzt ziehst du gleich Blindschleichen und Molche heraus!«
Witold lachte. »Sehr schlecht geraten! Natürlich ein Schweizer Offiziersmesser!«
Er hatte das rote Prachtstück schon in der Hand.
»Thyra, darf ich mal vorsichtig mit dem kleinsten und feinsten Instrument die Rückseite von der Brosche ablösen?
Vielleicht ist zwischen der Goldplatte und dem Stein eine Locke, ein Juwelierszeichen oder eine Inschrift.«
Ich nickte, und er begann sehr zart, die vielen dünnen Goldzähnchen umzulegen. In die von außen nicht sichtbare Hinterwand war tatsächlich ein Monogramm eingraviert: E.S.
Ernst wurde ganz aufgeregt, es müsse der Name seiner Großmutter väterlicherseits sein, Elise Schröder.
»Das bedeutet«, sagte Ernst, »daß meine frühe Geliebte entweder tot ist und ihre Hinterlassenschaft von den Erben verkauft wurde, oder daß sie in große Armut geriet und sich davon trennen mußte.«
Scarlett meinte spöttisch: »Du siehst das aber sehr durch die romantische Brille! Vielleicht mochte sie deine Brosche nicht besonders, und vielleicht war ihr auch die Erinnerung nicht gar so heilig, wie du glauben möchtest.«
Man aß weiter, der Baeckaoffa blieb lange heiß.
»Wieviel hast du denn dafür bezahlt?« fragte Ernst, den das Thema weiter beschäftigte.
Ich zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht mehr genau, aber sie war sehr teuer.«
Witold interessierte sich für Antiquitäten. »Solche Sachen haben natürlich Liebhaberpreise, ich könnte mir denken, daß sie in einem Heidelberger Antiquitätenladen mindestens dreitausend Mark kostet.«
Ernst sagte sehr leise zu mir: »Ich würde dir die Brosche gern abkaufen, aber fühle dich bitte nicht unter Druck gesetzt, sondern überlege in aller Ruhe. Ich würde jeden Preis zahlen oder dir auch ein Schmuckstück nach deiner Wahl kaufen.«
Ernst Schröder war also der Vater von Frau Römers Tochter!
Verrückt war das schon; sah sie ihm ähnlich? Ich hatte diese Frau, die älter als Kitty war, erst einmal gesehen. Sie war Olegs und Annettes Halbschwester!
Mit einem gewissen Ekel sah ich Ernst Schröder an; er hatte Frau Römers Leben verpfuscht. Dann erinnerte ich mich an Scarletts großartige Geste, wie sie ihre goldfarbene Samtbluse verschenkt hatte.
»Ich mache keine Geschäfte mit dir, Ernst«, sagte ich mit eisigem Hochmut, »ich schenke dir die Brosche für deine Tochter.«
Das war ihm nicht recht. Er regte sich auf, aber immer mit begierigem Blick auf das Erbstück.
»Thyra«, sagte er, »ein solches Geschenk kann ich nie und nimmer annehmen. Wir gehen vor Weihnachten auf eine große Antiquitätenmesse, und du suchst dir dort etwas Wunderschönes aus. Aber du verstehst doch, daß dieses Stück für mich eine ganz persönliche Bedeutung hat?«
Die anderen hatten von unserem Handel nur mit halbem Ohr vernommen. Sie diskutierten über das morgige Programm.
Kitty wollte wieder möglichst lange durch Wald und Feld marschieren, aber diesmal war es Witold, der etwas anderes im Sinn hatte.
»Entweder Colmar oder Straßburg«, schlug er vor, »Kinder, wir können doch nicht eine Woche durchs Elsaß fahren und jegliche Kunst und Kultur dabei aussparen.«
»Na gut, dann Straßburg«, sagte Scarlett, »ich habe mir vor Jahren totschicke Schuhe dort gekauft, diesen Laden finde ich wieder.«
»Banausin«, spottete Witold.
Das Geburtstagskind bewunderte die braunglasierte Keramikterrine, die hübsch mit weißen Blümchen und grünen Blättern bemalt war. »So eine kaufe ich mir in Straßburg, das Rezept vom Baeckaoffa schreibe ich mir genau auf, und heute in einem Jahr lade ich euch alle zu einem Gedächtnisessen ein.«
»Na wunderbar«, sagte Ernst freundlich.
Witold plante halblaut murmelnd die Besichtigung der Kathedrale, des Elsaß-Museums und des Viertels ›La Petite France‹.
Eine gewisse Trägheit nach dem reichhaltigen Essen machte sich breit. Besonders Kitty gähnte ungezwungen. Witold und sie waren ja bereits am frühen Morgen herumgelaufen.
»Wann sollen wir morgen aufbrechen?« fragte Witold.
»Ach Rainer«, maulte Scarlett, »wir haben doch Ferien, das müssen wir doch jetzt noch nicht festlegen. Das findet sich nach dem Frühstück.«
Kitty fragte unter unermüdlichem Gähnen: »Holst du mich morgen zum Frühspaziergang ab?«
»Na klar«, sagte Witold, »ich klopfe wieder an die Tür.
Vielleicht kommt Thyra auch mit.«
»Vielleicht«, antwortete ich.
Kitty wollte ins Bett, und wir brachen nun alle auf. Sie lag in Windeseile im Grand Lit, das ich heute mit ihr teilen mußte, während Scarlett sich das Zusatzbett geschnappt hatte. Kitty streckte alle viere von sich, seufzte »Gute Nacht« und schlief den gerechten Schlaf der fleißigen Wanderer.
9
Pamela Schröder zog einen Trainingsanzug von ihrem Sohn an. »Meine Nachtkleidung taugt nicht für dieses Massenlager«, sagte sie, was ich nicht ganz verstand.
Sie grinste. »Ich schlafe sonst nackt«, erklärte sie schockierenderweise.
Kaum lag ich neben Kitty, da fing sie an zu schnarchen.
Scarlett fluchte.
»Das ist ja entsetzlich, macht sie das immer?«
Ich versicherte, daß Kitty die zwei vorherigen Nächte völlig diszipliniert und tonlos geschlafen hätte.
»Dreh sie mal um«, befahl Scarlett, »dann hört es meistens auf.«
Ich versuchte es. Aber Kitty wendete sich mit Kraft wieder in die ihr vertraute Rückenlage und schnarchte weiter.
Scarlett stand am Fenster. Plötzlich zog sie ihren Anorak an, ergriff die Zigaretten und das Feuerzeug und meinte, sie ginge noch eine rauchen.
Ich sah aus dem Fenster in den dunklen Garten. Dort glühte bereits eine Zigarette. Scarlett war zielstrebig dorthin gelaufen, und schon sah man zwei Glühwürmchen, die auf eine verschwiegene Bank zusteuerten.
Das konnte nur Witold sein, mit dem sie sich traf. Wollten beide nur in Ruhe qualmen, ohne von ihren nicht-rauchenden Zimmergenossen gescholten zu werden, oder hatten sie etwas miteinander? Wenn ich nur hören könnte, was sie sprachen.
Nach fünf Minuten war meine Geduld zu Ende. Hier schnarchte Kitty mit unerschütterlicher Exaktheit, dort saß Witold mit der roten Hexe auf einer Bank. Ich zog mir die Jacke über den Jogginganzug, Socken und Hausschuhe über die bloßen Füße und einen Schal um den Hals. Die herbstliche Nachtluft war zwar nicht eisig, aber feucht und frisch.
Kitty merkte nicht, daß auch ich das Zimmer verließ. Die Treppe zum Erdgeschoß war breit, ich tastete, ohne Licht zu machen, hinunter, schlich durch die offene Tür in den Garten.
Ein Hochgefühl überkam mich. Gleich würde ich wieder teilnehmen an Witolds Privatleben, würde ich Worte hören, die nur für einen bestimmten Menschen gedacht waren. Möglich war natürlich auch, daß ihre Unterhaltung völlig oberflächlich war.
In diesem Garten mit Kieswegen und Blumenbeeten kannte ich mich nicht gut aus. Es dauerte ziemlich lange, bis ich auf Umwegen und mit vielen Pausen in die Nähe der bewußten Bank — die ich ohne glimmende Zigaretten nur erahnen konnte — herangeschlichen war. In diesem Fall wäre es vernichtend peinlich gewesen, wenn sie mich entdeckt hätten. Nun hörte ich sie reden, aber leise und vertraulich, ich mußte noch viel näher herankommen, damit ich sie verstehen konnte. Wie ein Indianer kroch ich auf allen vieren, da die Büsche nur halbhoch waren und nicht genügend Schutz boten.
Scarlett schimpfte auf ihren Mann.
»Ich kann seine Angeberei nicht ertragen. Wenn er einmal angeleiert ist, kommt meistens noch ein Dutzend andere Weibergeschichten aufs Tapet.«