Die Wirtin war zwar auch völlig außer sich, aber dabei mitfühlend und liebenswürdig. Die anderen Gäste waren zum Glück schon zeitig zu einer Fahrt aufgebrochen, und die große Katastrophe ließ sich vielleicht verheimlichen. Auf mütterliche Art befahl sie uns, erst einmal etwas anzuziehen und dann einen starken Kaffee zu trinken. Die Polizei hatte auch schon angerufen und darum gebeten, im Bad nichts anzutasten.
Kitty und ich duschten in einem anderen Zimmer. Witold war bereits fertig. Er nahm eine Tasse Kaffee vom Frühstückstisch und brachte sie seinem Freund. Kitty und ich tranken ebenfalls Kaffee, aßen sogar ein trockenes Hörnchen.
Witold sah aus wie das verkörperte schlechte Gewissen.
Natürlich hatte er keine Ahnung, wer von uns von seiner nächtlichen Eskapade etwas wußte. Um seine sichtliche Nervosität zu vertuschen, entwickelte er eine übertriebene Geschäftigkeit. Ständig wieselte er vom Frühstücksplatz, wo wir Frauen saßen, in die Küche zur Wirtin und dann in den stillen Raum, wo Ernst bei seiner toten Frau saß und nicht gestört werden wollte.
»Ich mache mir Vorwürfe«, sagte Kitty zu Witold und mir, »gerade in dieser Nacht habe ich wie ein Stein geschlafen, man hätte mich wegtragen können, und ich wäre nicht wachgeworden. Thyra oder ich hätten eigentlich hören müssen, als sich Scarlett spät in der Nacht das Badewasser einlaufen ließ, vielleicht hätten wir ihr noch helfen können.«
»Wahrscheinlich hatte sie eine Herzattacke, verlor das Bewußtsein und ertrank«, meinte Witold, »das könnte doch ganz lautlos geschehen sein. Kitty, du mußt dich nicht verantwortlich fühlen. Unterlassene Hilfeleistung ist wirklich nicht dein Stil, schließlich hast du hervorragend reagiert, traumwandlerisch alles richtig gemacht…«
Das tat Kitty gut. Sie lobte nun auch uns, daß wir phantastisch schnell geschaltet hätten. Wie entsetzlich, daß alles vergeblich war!
»Der arme Ernst!« seufzte sie, »wie geht es ihm denn jetzt?«
Witold meinte, er müsse ihn bald dazu bewegen, jenes Zimmer zu verlassen.
In punkto Kitty schien Witold beruhigt zu sein, aber er wußte natürlich immer noch nicht, ob Ernst oder ich von seinem Rendezvous etwas ahnten. Ich beruhigte ihn, indem ich in seiner Gegenwart zu Kitty sagte, daß ich nach der vorherigen Nacht voller Magenbeschwerden nun auch traumlos und tief geschlafen hätte.
Ein Polizist wurde von der Wirtin in unser Schlafzimmer und das Bad geführt. Er versiegelte die Badezimmertür, maß zuvor mit einem Thermometer das immer noch vorhandene Badewasser und fragte Kitty, wer in welchem Bett geschlafen habe. Der junge Mann sprach kein Elsässisch. Kitty antwortete in fließendem Französisch, verstummte allerdings, als Witold auftauchte, und überließ ihm die weitere Konversation. Der Beamte sagte, wir müßten alle hierbleiben, bis uns ein Kollege vernommen hätte, und der könne frühestens in zwei Stunden hier sein. Er sah auch nach der Toten, bat aber vorher Ernst Schröder, diesen Raum zu verlassen.
Ernst kam zu uns herein. Auf einmal schüttelte ihn ein Weinkrampf. Kaum konnte man ihn verstehen, aber er klagte sich selbst aufs heftigste an. Er habe mit seinem Geschwätz beim Abendessen Pamela beleidigt, denn seit Jahren könne sie solche Themen nicht ausstehen. Wahrscheinlich sei sie ganz wörtlich an gebrochenem Herzen gestorben. Kitty streichelte ihn wie ein Kind, nahm ihn in die Arme und sprach beruhigend auf ihn ein. Der Polizist kam wieder herein und sagte, er würde hier auf seinen Chef warten. Er ging dann in die Küche, um sich von der freundlichen Wirtin noch etwas Baeckaoffa aufwärmen zu lassen. Wir saßen beklommen da. Nur zu gern hätte Witold gewußt, ob Ernst ihn am Abend hatte wiederkommen hören. Wahrscheinlich mußte er ja noch wach gewesen sein, als Witold mit der Zigarette das Schlafzimmer verließ. Wir erfuhren aber von Ernst selbst, daß er eine, Schlaftablette genommen hatte, da er nach reichlichem Alkoholgenuß häufig überdrehte Zustände habe und nicht recht einschlafen könne.
Die Wirtin brachte uns eine Tasse heiße Zwiebelsuppe.
Schließlich erschien auch der Leichenwagen, aber dessen Fahrer hatte die Anweisung erhalten, auf den Kommissar zu warten, bevor er die Tote zur Pathologie brachte.
Nach gut drei Stunden kam der Kommissar. Auch er hielt sich zuerst bei der Wirtin in der Küche auf, wo bereits die zwei Totenträger und der Polizist saßen. Schließlich ging er mit der Fotoausrüstung und einem geheimnisvollen Köfferchen zu der Toten, die nun abtransportiert wurde. Kitty, die die Leiche gefunden hatte, sollte ihm oben im Badezimmer genau schildern, wann und wie das gewesen sei. Er fragte tatsächlich, warum das Handtuch naß in der Ecke läge, da sich Tote ja nicht abtrocknen. Kitty antwortete, wahrscheinlich habe sie Scarlett damit angefaßt. Scarletts Gepäck wurde in das Polizeiauto getragen. Ich war halbtot vor Angst, daß auch mein Koffer inspiziert würde. Aber es geschah nicht.
Schließlich wurden wir einzeln befragt. Anscheinend hatte einer der anderen Gäste, der unter uns wohnte, gehört, daß um Viertel nach drei noch Wasser lief, hatte sich darüber geärgert und sich die Zeit gemerkt. Kitty und ich sagten aus, daß wir absolut nicht wahrgenommen hätten, daß Scarlett noch so spät gebadet hatte. Auch Ernst erzählte nichts von Witolds später Zigarette, da er das wahrscheinlich vergessen hatte oder für unwichtig hielt. Die Wirtin hatte tief in der Nacht einen Wagen kommen hören, wußte aber nicht, wann. Die Gespräche mit dem deutsch sprechenden Kommissar zogen sich in die Länge.
Er war erst am späten Nachmittag mit uns fertig. Wir sollten am nächsten Tag in sein Büro kommen und die Protokolle unterzeichnen.
Ernst hatte sich nach dem Tränenausbruch und dem Verhör etwas gefaßt. Seine Sorge galt jetzt seinen Kindern. Er wollte ihnen die Nachricht persönlich, aber keinesfalls telefonisch mitteilen. Andererseits mußte er auf alle Fälle hierbleiben, bis alle Formalitäten geklärt und auch die Überführung der Leiche nach Deutschland geregelt war.
Witold schlug vor: »Wenn wir morgen bei der Polizei fertig sind, dann bitte ich dich, Kitty, mit meinem Wagen und Thyra heimzufahren. Ihr könnt hier doch nichts mehr für Ernst tun.
Ich bleibe hier bei ihm, übersetze bei den amtlichen Sachen und fahre ihn schließlich mit seinem Wagen heim. Aber natürlich müssen Annette und Oleg sofort informiert werden.«
Kitty fragte Ernst nach einer Person seines Vertrauens, die auch einen guten Draht zu den Kindern hätte. Ernst kam nun selbst auf die Idee, seine langjährige Apothekenhelferin und ein befreundetes Ehepaar anzurufen, das versprach, sich der Kinder anzunehmen und ihnen behutsam die schreckliche Wahrheit zu sagen.
Dabei fiel mir ein, daß ich bereits sieben Kinder — wenn auch keine kleinen — mutterlos gemacht hatte.
Keiner mochte an diesem Abend essen, aber die Wirtin brachte uns ungefragt eine Kleinigkeit aufs Zimmer, da sie uns vor der üblichen Heiterkeit der anderen Gäste bewahren wollte.
Wir gingen danach ein paar Schritte vor die Tür. Kitty hängte sich bei Ernst ein, sie ließ ihn sprechen, sich anklagen, weinen und hadern. Witold ging mit mir hinterher. Er war ebenfalls fix und fertig. Ein paarmal setzte er an und wollte etwas sagen, es gelang aber nicht.
»Thyra…«, begann er wieder ganz leise, »ach nichts.«
Ich hatte nicht Kittys Fähigkeit, ihn an der Hand zu nehmen.
Außerdem hatte ich auch keine Lust mehr dazu. Dieser Mann, das wurde mir immer klarer, würde, wenn ich viel Glück hatte, mal ein kurzes Techtelmechtel mit mir haben. Aber ich machte mir keine Illusionen, daß er treu und ehrlich bei mir bleiben würde. Beate hatte früher schon so etwas angedeutet: Eine Beziehung zu einem solchen Mann brachte nur Leid. Auch Scarlett hatte von einem »Ausbund an Charme« gesprochen, neben dem seine Frau Hilke stets im Schatten gestanden hatte.
Nein — keine Hand.
Aber plötzlich legte er los und war nicht mehr zu bremsen: »Thyra, drei Frauen sind tot. Eine davon war meine Frau, die hast du nicht kennengelernt, aber du warst bei ihrem Tod dabei.