Ich war immer noch ziemlich aufgeregt. Die übernächste Straße mußten wir überqueren. Weil es eine stille, feierabendfriedliche Gegend war, paßte ich nicht sonderlich auf. Eine Fahrradklingel schreckte mich aus meinen Träumen.
Mir stockte der Atem. Witold! Ich wäre fast in sein Fahrrad gelaufen. Er bremste, sah mich an und lächelte. Ich lächelte zurück, völlig verwirrt und wieder mit diesem Dröhnen in den Ohren. Er hatte wohl so etwas gesagt wie »Aufpassen!«, dann war er schon wieder weg. Er hatte mich angesehen!
Angelächelt! Ich war selig wie ein Kleinkind. Singend fuhr ich heim, umarmte den Hund, küßte ihn, legte mich ins Bett und tat kein Auge zu. Die ganze Nacht über sah mich Witold an, auf dem Fahrrad sitzend, lässig in Jeans und rotem Pullover, lächelnd.
Am nächsten Abend machte ich wieder die gleiche Tour zur gleichen Zeit, doch in vorteilhafteren Kleidern. Im Haus waren diesmal die Fenster im oberen Stock geöffnet, ich hörte schwach ein Radio. Nun, ich hatte Geduld; täglich konnte ich aufs neue versuchen, einen Blick und ein Lächeln zu erwischen. Vielleicht lief der Hund in seinen Garten, und ich mußte ihn einfangen, Witold stände mit einer Gartenschere vor einem duftenden Rosenstrauch, würde mir in die Augen blicken, lächeln, vielleicht ein wenig mit mir plaudern. Immer neue glückliche Möglichkeiten fielen mir ein.
Wieder ein Tag später. Ich hatte Frau Römer versprochen, sie heute im Krankenhaus zu besuchen. Inzwischen wußte ich, daß man ihr die rechte Brust abgenommen hatte, was mich tief bestürzte. Pünktlich hörte ich im Büro auf. In diesen Tagen saß ich in Frau Römers Zimmer, weil der Hund an den dortigen Platz unterm Schreibtisch gewöhnt war, geduldet vom Chef.
Als er vor Jahren hier eingezogen war und sich immer mäuschenstill verhalten hatte, kam der Chef eines Tages herein, um sich leutselig nach dem Tier zu erkundigen. Damals hieß der Hund noch Micki oder ähnlich ordinär. Als er den Chef vor dem Schreibtisch stehen sah, fing er mit samtener Stimme an zu heulen.
»Nanu«, wunderte sich der Chef, »du hast ja einen sehr gepflegten Bariton. Bist du ein tierischer Fischer-Dieskau?«
Von da an hieß Micki nur noch der Dieskau.
Ich fuhr mit dem Dieskau direkt vom Büro ins Krankenhaus, kaufte unterwegs Blumen, ließ den Hund im Wagen und stieg die blanken Krankenhaustreppen hoch zu Frau Römer. Da lag sie, ein Drainageschlauch ragte aus ihrem Nachthemd heraus, aber sonst sah sie ziemlich aus wie immer. Sie fand alles nicht so schlimm.
»Wissen Sie, ich bin schon über sechzig, da definiert man sich nicht mehr so stark vom Körperlichen her. Wenn mit dieser Operation der Krebs wirklich weg ist, werde ich nie mehr ein Wort darüber verlieren.«
Sie fragte vor allem nach ihrem Dieskau und freute sich, daß ich ihr von tollen abendlichen Exkursionen erzählte, natürlich ohne zu sagen, wohin wir gingen.
An diesem Tag wurde alles später. Ich war erst nach sieben zu Hause, wollte noch baden und essen und stand schließlich lange vor dem Kleiderschrank. Was sollte ich diesmal anziehen? Auf keinen Fall den Jogginganzug, der war mausgrau und langweilig. Ein Kostüm? Auch nicht, dann sah ich schon wieder wie eine korrekte Bürofrau aus. Schließlich zog ich eine weiße Hose an, einen dunkelblauen Pullover und flache Schuhe. Es war schon leicht dämmrig, und diesmal traf ich Witold in der Parallelstraße, jedoch nicht auf dem Rad. Er hastete an mir vorbei, sah mich nicht an, machte ein abwesendes Gesicht; offensichtlich wollte er noch mal ins Städtchen gehen. Das Auto stand vor seinem Haus, die Fenster waren geschlossen, nirgends Licht. Ich ging mit dem Dieskau wieder zu meinem Wagen. Als wir beide drin saßen, stieg ich kurz entschlossen von neuem aus und ließ den Hund allein zurück. Er hatte nie etwas dagegen, akzeptierte das Auto als Zweitbett.
Ich ging zu Fuß in die Altstadt. Die Straßen waren naß, es mußte vor kurzem geregnet haben. Gut, daß ich bequeme Schuhe trug, das Kopfsteinpflaster war nichts für Stöckelschuhe. Witold mußte hier irgendwo sein, vielleicht in einer Kneipe. Sonst ging ich nie abends allein in Kneipen, ganz selten nur mit Bekannten. Ich war sehr unsicher. Die erste Wirtschaft war gut zu beobachten, man konnte von draußen durch die niedrigen, offenstehenden Fenster schauen, aber ich entdeckte ihn nicht.
In eine zweite trat ich ein und sah mich suchend um. »Na, Mutter, kommst du deinen Ollen holen?« fragte mich ein angetrunkener Mensch. Ich ging sofort wieder und hatte keinen Mut mehr, die nächsten Lokale zu betreten. Endlich suchte ich mir eine Edelkneipe, setzte mich in eine Ecke und bestellte eine Weinschorle. Natürlich war er auch nicht hier. Ich bezahlte und bummelte über den Marktplatz, besah mir den Brunnen mit einer Marienstatue auf hoher Säule. Überall Stadtmauerreste; vor einer Schule — war es seine? — las ich: Um 90 nach Chr. errichteten römische Soldaten unweit der keltischen Siedlung Lopodunum ein Steinkastell.
Vielleicht war Witold im Kino? Ich sah mir das Kinoprogramm an und überlegte, ob ich noch in eine Spätvorstellung gehen sollte. Dann betrachtete ich wieder Schaufenster, trödelte herum. In einem alten Fachwerkhaus wurde eine Hochzeit gefeiert, über dem Torbogen hing eine Wäscheleine voller Babykram.
Als es dunkel war, ging ich noch einmal zu Witolds Haus.
Im Erdgeschoß brannte jetzt Licht. Niemand war auf der Straße zu sehen, das ganze Viertel schien ziemlich ausgestorben, schließlich war Sommer und Urlaubszeit. Ich schlich über das Nachbargrundstück mit Kirsch- und Nußbäumen, bis ich Witolds Garten erreichte. Es war nicht schwer, den defekten Drahtzaun hochzuheben und ohne turnerische Anstrengung darunter durchzuschlüpfen. Allerdings war die weiße Hose nicht gut gewählt: Erstens wurde sie schmutzig, zweitens leuchtete sie vielleicht im Dunkeln.
Die Blätter der Walnußbäume hoben sich schwarz gegen den dunklen Himmel ab. Hinter einem dicken Apfelbaum glaubte ich mich ganz gut getarnt. Mein Puls ratterte. Ich kam mir wie eine Einbrecherin vor, wie eine andere Person, die nichts mehr mit der korrekten Sachbearbeiterin zu tun hatte.
Das Haus öffnete sich mit der Breitseite nach hinten zum Garten hin. Die Vorderseite war dagegen ziemlich verschlossen, wahrscheinlich lagen Flur, Klo und Küche nach vorn. Man sah durch eine große Glasschiebetür in ein erleuchtetes Wohnzimmer. Ein Schreibtisch war direkt an die Glasfront gerückt, eine Gestalt saß daran, wahrscheinlich Witold. Ich tastete mich sehr vorsichtig, sehr langsam, näher heran. Nasse Zweige wischten mir übers Gesicht, ein zertretenes Schneckenhaus knirschte unter meinen Füßen. Zum Glück standen die Obstbäume dicht und buschig um mich herum, der Lichtschein erreichte mich nicht. Nun konnte ich das Objekt meiner Sehnsucht gut erkennen. Es arbeitete am Schreibtisch. Schulhefte? Nein, es waren ja Ferien. Vielleicht ein neues Buch, ein Vortrag für die Volkshochschule, ein Brief.
Er hielt immer mal wieder inne und blickte nachdenklich in den dunklen Garten hinaus — wie mir schien, geradezu in mein Gesicht. Aber sehen konnte er mich bestimmt nicht.
Ich konnte mich von diesem Bild nicht lösen. Ich bin ein weiblicher Spanner! schoß es mir durch den Kopf. Witold hatte Cordhosen an, heruntergetretene schwarze Hongkong-Stoffschlappen, eine grüne Strickjacke mit fehlendem Knopf und durchlöcherten Ellbogen. Bei mir kann ich solche Schlampereien nicht ausstehen. Fehlende Knöpfe werden sofort angenäht, zerrissene Pullover kommen in den Rotkreuzsack. Seine Frau war wohl nicht so penibel. Im übrigen, wo war sie überhaupt? Im Wohnzimmer war es reichlich unordentlich, eine heruntergerutschte Wolldecke neben dem Sofa, eine vertrocknete Azalee auf der Fensterbank, volle Aschenbecher, Zeitungshaufen. Entweder war die Hausfrau eine Schlampe oder verreist oder krank, oder sie war beruflich total überfordert. Ich hoffte, sie wäre überhaupt nicht vorhanden.
Witold schrieb und schrieb. Dazwischen nahm er die Halbbrille ab, rauchte zuweilen eine Zigarette, ging auch manchmal auf und ab. Einmal klingelte das Telefon. Er sprach mit aufgeregtem, ja bösem Gesicht, knallte plötzlich den Hörer auf die Gabel und steckte sich sofort eine neue Zigarette an.