Dachte er gar nicht an mich? Kam ihm überhaupt kein Verdacht? Vor kurzem war er doch nahe an die Wahrheit herangekommen. Er ist egozentrisch, dachte ich, auch Ernst interessiert ihn nicht sonderlich. Ich versprach, über alles nachzudenken, nichts über seine (und meine) Rolle bei Hilkes Tod zu sagen, auch nicht über sein Rendezvous mit Scarlett kurz vor ihrem Ende.
Ich mußte auf der Hut sein. Man glaubte also, drei Frauen könnten ermordet worden sein und eventuell alle vom gleichen Täter. Ich mußte überlegen, was ich bei einem möglichen Verhör sagen sollte. Und denkbar war durchaus, daß auch mein Telefon abgehört wurde und man mich beschattete.
Mittwoch abend. Die Beerdigung von Scarlett mußte wohl vorbei sein. Witold und Kitty waren sicher wieder zu Hause.
Ich mochte nicht anrufen, sondern fuhr vom Büro aus nach Ladenburg. Vor Witolds Tür stand Beates Auto. Sekundenlang setzte mein Herz aus, bis ich begriff, daß es Vivian sein mußte.
Nein, die wollte ich nicht bei einem Tête-à-tête mit ihm überraschen. Ich fuhr sofort weiter. Nach Hause wollte ich auch nicht, daher beschloß ich, Kitty zu besuchen.
Obgleich ich schon einmal mit Witold zu Kitty gefahren war, fiel es mir nicht leicht, ihre Wohnung in Schriesheim zu finden, ich mußte zweimal fragen. Es war ein Mehrfamilienhaus in einer Wohngegend. Ich schellte. Die Tür wurde sofort aufgerissen. Kitty stand mit einem Kind im Flur. Sie wunderte sich nicht über meinen Besuch, verabschiedete sich von der Nachhilfeschülerin und machte mit ihr einen neuen Termin aus, dann gingen wir ins Wohnzimmer.
Kittys Wohnung war nordisch hell, eine Gitarre hing an der Wand, blaue Flickenteppiche lagen am Boden, auf den Segeltuchsesseln hingen Schaffelle. An den Wänden standen rohe Holzregale mit vielen Büchern, auf dem Schreibtisch lauerte eine Katze.
Um einen Moment der Befangenheit zu überbrücken, trat ich auf die Katze zu und wollte sie streicheln, aber das Tier sprang ängstlich weg und versteckte sich. Kitty ließ mich Platz nehmen und verschwand in der Küche: Sie wollte Teewasser aufsetzen. Witolds Buch lag auf dem Schreibtisch. Ein Foto von ihm und ihr, wohl von einer gemeinsamen Klassenfahrt, hing sehr delikat gerahmt und ein wenig versteckt in der Fensterecke. In mir wallte nun doch eine eifersüchtige Wut auf, denn solche Fotos besaß ich nicht.
Als Kitty mit zwei irdenen unglasierten Teeschalen, braunem Zucker und Ingwerplätzchen wieder erschien, fragte ich, ob ihre Fotos von der Elsaßwanderung fertig wären. Sie sah mich entsetzt an.
»Mein Gott, nach diesem Schock denkst du noch an Fotos!
Der Film ist nur halb verknipst, sicher werde ich die andere Hälfte noch monatelang für eine passende Gelegenheit aufheben.«
Nun fragte ich, wie die Beerdigung gewesen sei. Kitty rannte wieder in die Küche, um das kochende Wasser in die Teekanne zu schütten.
»Natürlich war es schrecklich«, begann sie, »der Pfarrer hat aber wenigstens eine gute Rede gehalten, weder sentimental noch banal. Wir alle waren ergriffen. Ernst und die beiden Kinder — das war kaum zum Ertragen! Ein so großes Leid, das kann ich dir gar nicht schildern!« Kitty hatte Tränen in den Augen.
»Waren viele Leute da?«
»Ganz Ladenburg, so schien mir. Auch das halbe Lehrerkollegium, die Schulklassen von Oleg und Annette, verschiedene Vereine. Die Schröders sind sehr beliebt. — Ach, es ist schon tragisch, wenn eine Mutter von zwei Kindern stirbt.«
Ich hörte wieder mit Genugtuung von der großen Beerdigung. Alles mein Werk. Jetzt tat es mir doch leid, nicht dabei gewesen zu sein.
»Warum warst du nicht dort?« wollte Kitty wissen.
Ich erklärte ihr, daß es schon große Schwierigkeiten gegeben hätte, für diese Wanderung freizukriegen; an einem Nachmittag so kurz darauf sei es einfach nicht möglich gewesen.
»Meinst du, ich soll Ernst Schröder die Brosche seiner Mutter einfach als Päckchen zuschicken?« fragte ich.
Kitty überlegte und kraulte dabei die Katze.
»Ich würde noch warten. Im Augenblick hat er sicher ganz andere Dinge im Kopf. Außerdem wird ihn diese Brosche an den letzten gemeinsamen Abend erinnern. Er denkt ja leider, daß er mit dieser Broschengeschichte seine Frau verletzt hat.
Nein! Warte auf jeden Fall, bis die erste schlimme Zeit vorbei ist. Dann kann Rainer ja vorsichtig anfragen, ob er die Brosche überhaupt noch haben will.«
Ein vernünftiger Rat, aber ich hatte einen fast unbezähmbaren Drang, Frau Römers Brosche wegzugeben, sie loszuwerden. Vielleicht wollte ich damit etwas wiedergutmachen…
»Wie geht es Witold?« Ich konnte nicht anders und mußte diese Frage stellen.
Kitty betrachtete mich. Sie war müde. In ihren alten Jeans und einem noch älteren Norwegerpullover hing sie im Schaffell und hatte einen großen Teil ihrer frischen Wandervogelaura gegen eine gestreßte Lehrerinnenfreundlichkeit eingetauscht.
»Rainer mochte Scarlett sehr, glaub’ ich. Ihr Tod geht ihm nahe«, sie zögerte ein wenig, »ich nehme aber an, seine junge Freundin wird ihn trösten.«
Die letzten Worte waren trotzig. Kitty wollte, daß ich von Vivians Existenz erfuhr, offensichtlich war sie ebenso als »einzige Vertraute« eingeweiht worden wie ich. Ich beschloß, nicht zu lügen.
»Ich weiß von seiner Freundschaft mit Vivian«, sagte ich, »er hat mir natürlich davon erzählt.«
Das schien Kitty nicht allzu sehr zu verwundern, sondern nur ihren Verdacht zu bestätigen, daß wir beide als vertraute Beichtschwester für diesen Charmeur fungierten. Konnte man ihm das vorwerfen? Wahrscheinlich machte er keine falschen Versprechungen und Liebeserklärungen, sondern kostete es nur aus, möglichst viele Eisen im Feuer zu haben.
Kitty seufzte. Sie schien ähnlichen Gedanken nachzusinnen.
Ich wagte aber nicht, nach ihrer Beziehung zu fragen.
Es wurde nun schon früh dunkel. Ich beschloß, wieder über Ladenburg zurückzufahren. Aus alter Gewohnheit stellte ich den Wagen ab, lief zu Fuß an Witolds Haus vorbei und starrte auf Beates Auto. Ich kroch in die Apfelbäume, die allerdings ihre Blätter abwarfen und teilweise schon kahl waren.
Im Wohnzimmer saß Vivian ganz allein und weinte.
Eigentlich hatte ich etwas anderes erwartet, beispielsweise eine Verführungsszene. Aus der Küche kommend, betrat ein junger Mann die Bühne, es war wohl der älteste Sohn, und stellte ein Tablett mit Brot, Butter und Aufschnitt auf den Tisch. Witold rief aus der Küche, und der Sohn holte einen wurzeligen Korkenzieher aus der Schublade und verschwand. Vivian schneuzte sich. Ihre Augen waren verschmiert, die Nase rot.
Nun kam Witold, strubbelte ihr im Vorbeigehen freundlich übers schwarze Haar und stellte Rotwein und Gläser auf den Tisch. Die drei setzten sich und aßen. Sie waren nicht sonderlich lustig, sondern ziemlich still. Aber trotzdem ging von dieser Szene des gemeinsamen Essens unter einer Hängelampe ein Zauber der Geborgenheit aus, der mich mehr erregte, als es eine erotische Vorführung zustande gebracht hätte. Ein grenzenloses Heimweh nach menschlicher Gesellschaft und Zugehörigkeit überkam mich. Meine Ausgeschlossenheit von jeglichem familiärem Leben würde erst mit meinem Tod enden, das wurde mir klar. Und wieder fiel mir der Revolver ein, der inzwischen in meinem Badezimmer versteckt war. Er lag in einem ausgedienten Kulturbeutel ganz oben auf dem Medizinschränkchen.
Vielleicht sollte ich ihn bald an den eigenen armen Kopf setzen.
Die Glastür war fest verschlossen, von den Gesprächen der drei war kaum etwas zu vernehmen. Der Sohn holte eine Zeitung und schien etwas nachzulesen, worüber man diskutierte. Ich wagte nicht, mich nahe heranzupirschen. Es war kalt. Ich war einsam.
Schließlich ging der Sohn mit Vivian aus dem Haus, sie fuhren gemeinsam mit Beates Auto davon. Witold trug das Geschirr in die Küche. Seine Bewegungen waren lahm, sein Gesicht zeigte einen leicht resignierten Ausdruck. Ich beschloß heimzufahren.
Abrupt öffnete Witold die Glastür und trat auf die Terrasse.
Er atmete tief durch, und plötzlich sah er mich. Anscheinend erkannte er nur eine schemenhafte Gestalt, er rief, eher ängstlich: »Wer ist da?«