»Jetzt heißt es schieben!« forderte er mich auf. Wir mühten uns gemeinsam ab, aber wir kamen nicht über einen ungeschickt liegenden großen Stein. Witold stieß den Toten ein Stück zur Mitte und klemmte sich neben ihn.
»Ich fahre ein Stückchen zurück und dann mit Schwung über den Stein«, erklärte er mir, »stell du dich an den Rand mit der Taschenlampe!«
Ich kletterte über die Stacheldrahtrolle, leuchtete und wartete. Auch mit Motorkraft gelang es nicht auf Anhieb.
»Wir waren blöde«, sagte Witold, »wir hätten das Loch ein paar Meter weiter rechts schneiden sollen, da wäre es kein Problem gewesen. Wahrscheinlich müssen wir nun noch mal mit der Zange arbeiten.«
Er stieg wieder aus. Wir waren beide erschöpft.
»Ich probier’ es noch einmal«, meinte er und drückte sich wieder neben den Toten. Ich stellte mich an den Rand des Abgrunds und gab Lichtzeichen.
Witold fuhr wieder ein Stück zurück. Mir kam es so vor, als hätten wir eine Menge Lärm gemacht, aber es war in dieser Jahreszeit unwahrscheinlich, daß ein Liebespaar oder sonst jemand mitten in der Nacht hier herumlief.
Mit Schwung kam Witold nun herangeprescht und schaffte es, den Stein zu überspringen. Aber offensichtlich kam er nicht an der rechten Stelle zum Stehen — der Wagen flog über meinen hellen Taschenlampenkreis hinaus und krachte in die Tiefe.
Hatte Witold nicht halten können, oder war es ein neuer Plan gewesen, im letzten Moment abzuspringen?
In abgrundtiefer Entfernung begann es zu knallen und zu brennen. Ich verharrte wie eine Statue und starrte hinunter.
Außer dem lodernden Feuer und bunt explodierenden Päckchen konnte ich in der dunklen Wolfsschlucht nichts erkennen.
Nun war Witold auch tot. »Spring hinunter, Rosmarie!« sagte die Stimme meiner Mutter. Ich trat ganz nah an den Abgrund und beschloß, nicht lange zu fackeln. In der Ferne hörte ich eine Feuerwehrsirene, die mir die Realität der Situation zum Bewußtsein brachte. Ich mußte hier weg.
Ich lief mit der Taschenlampe in der Hand durch den dunklen Waldweg. Beim besten Willen ging es nicht schnell.
Dabei meinte ich dauernd, menschliche Stimmen vor, hinter und neben mir zu hören. Witolds Wagen stand einsam auf dem Parkplatz. Der Schlüssel steckte in der hinteren Klappentür; Witold hatte ihn glatt vergessen, als er das Benzin herausholte.
Wo war der Kanister geblieben? Wahrscheinlich stand er noch im Wald und machte diesen Mord auf den ersten Blick ganz deutlich: Zaun durchgeknipst und Leiche mit Benzin übergossen. Selbst wenn alles völlig verbrannt war, würde man nicht zweifeln, daß es sich um keinen Unfall handelte.
Mechanisch nahm ich die Wagenschlüssel, schloß auf, setzte mich in Witolds Wagen und fuhr los. Zu Fuß hatte ich einen allzu langen Weg nach Hause.
Nach Hause? Ich durfte Witolds Wagen auf keinen Fall in Mannheim vor meine Wohnung stellen. Wo er nun tot war, sollte man ihn auch für den Täter halten, das würde ihm nicht mehr weh tun. Also mußte ich das Auto vor seinem Ladenburger Haus parken. Es mußte so aussehen, als hätte er den Polizisten erschossen und dann die Leiche beseitigt, unter Umständen dabei Selbstmord begangen.
Aber würde er im Falle eines Selbstmordes nicht eher zum Revolver greifen und sich zu Hause erschießen, statt vorher noch die Plackerei im Steinbruch durchzustehen?
Ich fuhr also nach Ladenburg. In Weinheim hörte ich verschiedenartige Sirenen und Martinshörner, aber ich traf merkwürdigerweise keines der zugehörigen Fahrzeuge. Aus Unkenntnis konnte ich nicht in Schleichwege einbiegen und mußte meinen Weg mitten durch die Stadt nehmen.
Anscheinend versuchte man von unten an den brennenden Wagen heranzukommen und war zu meinem Glück gar nicht erst von oben an den Abgrund herangefahren.
In Ladenburg stieg ich bei Witolds Haus aus und ließ die Schlüssel stecken. Zuvor wischte ich sie jedoch gründlich ab, ebenso das Lenkrad und die Schaltung.
Nun stand ich dort auf der Straße und überlegte, wie ich heimkommen sollte. Bahn, Taxi oder Straßenbahn schienen mir viel zu auffällig, einen Wagen anhalten erst recht.
Es blieb mir nichts anderes übrig, als einen weiten Fußmarsch durch die kühle Herbstnacht zu starten. Wie weit?
Ich wußte es nicht. Die kurze Stecke mit dem Auto würde sich endlos dehnen, wenn ich sie erwandern müßte. Natürlich konnte ich mich irgendwo verstecken und am frühen Morgen eine Straßenbahn besteigen. Da fiel mir ein, daß ich in der Aufregung kein Geld mitgenommen hatte, nur meine Ausweise und die Hausschlüssel steckten in der Manteltasche.
Ich marschierte los. Es war sternklar. Ich ging möglichst im Schatten, drückte mich durch kleine Straßen und vermied es, Geräusche zu machen.
Mör-de-rin! trommelte mein Puls. Zu diesem Rhythmus konnte ich zügig wandern. Warum hatte ich bei der Ausführung meiner Taten immer so viel Glück gehabt? Warum war ich nie verdächtigt oder gar überführt worden?
Wieder half mir der Zufalclass="underline" Ich fand ein unabgeschlossenes Herrenfahrrad, schwarz, alt und klapprig. Ich zögerte keine Minute, es zu ergreifen. Überdies stand es neben einem Müllcontainer und gehörte am Ende zum Sperrmüll. Als ich mich noch mühte, das Rad zu besteigen, öffnete sich ruckartig der Deckel des Müllcontainers. Ich fiel vor Schreck mit dem Fahrrad zu Boden. Wie der Vogel aus einer Kuckucksuhr steckte ein Stadtstreicher seinen Kopf heraus und schrie:
»Diebe, Mörder!«
Mein Entsetzen war kaum zu schildern, aber gleichzeitig brach der Fluchtinstinkt wieder mächtig durch — weg hier, weg von diesem Unhold, der es sicher mit allen zehn Geboten noch weniger ernst nahm als ich.
Bevor er aus seiner Bettkammer herausgeklettert war, hatte ich es geschafft, mich hochzurappeln, aufzusitzen und unter Aufbietung aller meiner Kräfte halb stehend davonzuradeln.
Nach einigen Minuten mußte ich anhalten und verschnaufen, aber ich war erfüllt von Euphorie: entkommen!
Als ungeübte Radfahrerin fiel es mir nicht leicht, mit diesem Fahrzeug heimzugelangen, zumal es keine Lampe hatte. Aber immerhin hegte ich doch die Hoffnung, nicht die ganze Nacht auf den Füßen verbringen zu müssen.
Es war noch stockdunkel, als ich nach Mannheim kam.
Überall gingen Lichter an. Frühschichtler begaben sich unter die Dusche, Autos waren in Richtung Stadt unterwegs. Das Rad stellte ich auf einen Parkplatz und ging die letzten Minuten zu Fuß. Als ich auch noch die Treppe überwunden und meine Wohnung erreicht hatte, beschloß ich, sie nie mehr zu verlassen. Ins Bett gehen und nie mehr aufstehen. Am besten einschlafen und nie mehr aufwachen.
Kalter, miefiger Rauch schlug mir entgegen, ein Wadenkrampf fuhr mir ins rechte Bein, ein voller Aschenbecher und ein vom Stuhl gerutschter sandfarbener Pullover erinnerten mich an Witold, der noch vor einigen Stunden unversehrt hier gesessen hatte.
Ich öffnete das Fenster, taumelte ins Schlafzimmer und warf mich angekleidet aufs Bett. Ein schwarzer Schatten schoß hervor und stürzte sich auf mich. Es war der verängstigte Dieskau, den ich am Abend nicht mehr ausgeführt hatte. Ins Bett gehen lohnte sich kaum. Ich müßte doch bald aufstehen und ins Büro gehen. Trotzdem blieb ich auf dem Bett liegen, kraulte den Hund an den Ohren und war zu keinen klaren Entschlüssen, geschweige denn Taten mehr fähig.
Ich wollte krank sein, ich wollte im Krankenhaus in einem sterilen weißen Bett hegen, nur wildfremde Menschen sehen, mit niemand sprechen müssen. Keine Verantwortung mehr, keine Pflicht. Ich wünschte mir einen pflanzenhaften Zustand des Verdämmerns.
Aber nach einer halben Stunde stand ich auf und ging unter die Dusche. Ich machte mich bürofein, räumte auf, trank etwas Tee und führte den Dieskau kurz auf den Grünstreifen. Mit der Zeitung in der Hand kam ich wieder nach oben, aber aus Erfahrung wußte ich, daß nächtliche Ereignisse nie am folgenden Morgen veröffentlicht werden, es sei denn, sie seien von weltweiter Bedeutung.
Pünktlich wie stets verließ ich mit dem Hund die aufgeräumte Wohnung und fuhr ins Büro. Diesen Tag durchzustehen würde mir sicher besonders schwerfallen.