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Kurz vor der Mittagspause bekam ich einen Anruf von der Polizei, ich sollte mich für ein kurzes Gespräch in meinem Bürozimmer bereithalten. Diesmal kamen sie zu zweit, mit sehr ernstem Gesicht. Ob gestern ein Kollege, ein Kommissar Wernicke, bei mir angerufen habe oder sogar vorbeigekommen sei?

Ich verneinte. Wo ich gewesen sei? Nach Büroschluß sei ich heimgefahren, unterwegs hätte ich allerdings noch etwas eingekauft. Zu Hause hätte ich nach einer kleinen Verschnaufpause gegen Abend einen Hundespaziergang gemacht. Ich wies auf den Dieskau unter meinem Schreibtisch, als ob er als Zeuge aussagen könne.

Ob Herr Engstern mich angerufen oder besucht hätte?

Ich verneinte abermals und sagte, ich hätte ihn zuletzt vor etwa zehn Tagen gesehen. Schließlich fragte ich, so energisch wie es mir noch möglich war, was diese Fragen bedeuteten.

Der eine Polizist, jung und drahtig wie sein toter Kollege, seufzte tief auf. Er sprach abgehackt.

»Morgen werden Sie es ohnehin in der Zeitung lesen. Letzte Nacht ist mein Freund Hermann Wernicke in seinem Wagen verbrannt.«

»Wie ist das passiert?« fragte ich.

»Wenn wir das so genau wüßten, wären wir nicht hier«, erklärte der zweite Beamte, etwas freundlicher, »aber es handelt sich um Mord, das ist sicher. Wernicke war der Lösung dieser ominösen Todesfälle dreier Frauen auf der Spur.

Wahrscheinlich war Engstern der Täter, wenn auch manches noch sehr verworren erscheint. Wir wissen, daß Wernicke zu Engstern wollte, weil er neue Verdachtsaspekte vermutete.

Seitdem wurde er nicht wieder gesehen und erst heute nacht halb verkohlt aus seinem zerquetschten Wagen gezogen.«

Von Witolds Leiche sagten sie nichts. Sollte ich nach ihm fragen?

Ich wagte es nicht.

»Wo ist das denn passiert?« klang neutraler.

»Der Wagen ist bei Weinheim einen Abgrund hinuntergestürzt, zuvor hat man meinen bewußtlosen oder bereits toten Freund mit Benzin übergossen«, sagte anklagend der Jüngere der beiden.

Mein Gesicht war blaß und elend, das wußte ich, aber in Anbetracht dieser Schilderung war das wahrscheinlich angemessen.

Man legte mir noch einmal ans Herz, über alles nachzudenken, was Witold in der letzten Zeit zu mir gesagt hatte, und sofort anzurufen, wenn mir irgendeine Ungereimtheit einfiele.

»Was sagt er denn selbst?« fragte ich harmlos.

Sie wechselten einen Blick.

»Er kann nichts sagen«, meinte der eine.

»Warum?« fragte ich, »ist er geflohen?«

»Er liegt im Sterben«, kam die Antwort, »wahrscheinlich geht es heute noch zu Ende mit ihm, ohne daß er das Bewußtsein wiedererlangt. Die Ärzte geben ihm keine Chance.

Er saß ebenfalls in dem abgestürzten Wagen, ist aber herausgeschleudert worden. Wahrscheinlich wollte er abspringen, und es ist im richtigen Augenblick mißglückt.«

Das Entsetzen stand mir in den Augen.

»Wo ist er denn jetzt?« fragte ich.

»Im Johanniterkrankenhaus, aber Besuch ist indiskutabel.

Man beatmet ihn zwar noch, aber Sie sollten sich keine Hoffnung machen.«

Die Polizisten verabschiedeten sich höflich. Der Chef kam gleich nach ihrem Verschwinden herein, und die Neugierde stand ihm im Gesicht geschrieben.

Ich sagte ihm kurz und bündig, es gebe wieder einen Todesfall in meinem Bekanntenkreis.

»Frau Hirte, am meisten machen Sie mir Sorgen!« rief er bestürzt, »sehen Sie doch mal in den Spiegel, Sie sind ja selbst ein Abbild des Elends. Sie müssen auf der Stelle zum Arzt, das ist ein dienstlicher Befehl! Und danach wünsche ich nicht, daß Sie wieder hier auftauchen. Sie legen sich zu Hause brav ins Bett und tun alles, was der Onkel Doktor sagt. Ich glaube fast, Sie haben es mit Ihrer eisernen Pflichterfüllung übertrieben.

Nach so viel menschlichem Leid hält sich auch kein Übermensch mehr auf den Beinen!«

Ich dankte ihm und packte mein Brötchen wieder ein, nahm Hund und Mantel und verschwand. Ich fuhr wirklich beim Arzt vorbei, sah dort aber, daß erst nachmittags ab vier Sprechstunde war.

Also konnte ich mich noch ein wenig hinlegen.

Aber zuvor mußte das Bad desinfiziert werden. Von meiner Drogerie hatte ich eine Riesenflasche Sagrotan mitgebracht.

Ich hatte dort bemerkt, daß mein Hund diese Nacht Durchfall gehabt hätte. Zwei Stunden putzte ich das Bad, aber danach noch die gesamte Wohnung.

Mein sogenannter Hausarzt, der mich in vielen Jahren nur sehr sporadisch zu Gesicht bekommen hatte, war mit meiner auffälligen Gewichtsabnahme und der Leichenblässe auch nicht einverstanden. Mein gesamter Bauch war gespannt und druckempfindlich, und er ordnete weitere Untersuchungen an, als nächstes für den folgenden Morgen eine Blutentnahme zwecks abklärender Laboruntersuchungen.

Zu Hause legte ich mich ins Bett, der Hund neben mir trauerte, die schmerzliche Brahmsmusik lief vom Band, der Revolver und Witolds Pullover warteten neben mir. Der restliche Tag verlief schwarz und violett, mein Leben lief in düsteren Bildern filmartig ab, mein Kopf war nicht mehr fähig zu denken.

Am nächsten Tag brachte die Zeitung einen längeren Artikel über den Polizistenmord. Der mutmaßliche Täter, der auch für drei andere Straftaten in Frage käme, läge auf der Intensivstation mit schwersten Verletzungen, von denen jede für sich zum Tode führen könne.

Ich fuhr zum Arzt und ließ mir Blut abzapfen, wurde für den nächsten Tag wiederbestellt und für zwei Wochen krankgeschrieben. Ich begab mich völlig erschöpft wieder ins Bett. Nie mehr würde ich wie ein normaler Mensch leben können.

Irgendwann erreichte mich Kittys Anruf. Sie weinte und war kaum zu verstehen.

»Ist er tot?« fragte ich.

»Schlimmer, viel schlimmer«, schluchzte Kitty, »er lebt noch, und falls er leben bleibt, ist es das schrecklichste Schicksal, das ich mir denken kann. Querschnittsgelähmt und hirnverletzt.«

»Ist er bei Bewußtsein?«

»Er war es kurzfristig.«

Ich erschrak fast zu Tode.

»Hat er etwas gesagt?«

»Nein. Gnädigerweise ist er wieder in künstlichem Dämmerschlaf. Falls er durchkommt, wird er ohne Sprache, wahrscheinlich auch ohne Gedächtnis und Verstand, im Rollstuhl dahinvegetieren. Ich komme nicht darüber hinweg.«

»Was meinst du zu den Dingen, die er getan haben soll?« fragte ich Kitty.

»Es ist mir egal, was er getan haben soll«, antwortete sie stolz, »ich würde ihn auch lieben, wenn er ein notorischer Mörder wäre, aber er ist keiner. Im Augenblick lebe ich in der wahnsinnigen Situation, daß ich ihm den Tod als Alternative geradezu wünsche.«

Ihre Worte erschütterten mich, ich weinte nun auch. Kitty war ein guter Mensch und ich ein schlechter, aber was bedeuteten solche Begriffe.

Nach einigen Tagen kam der nächste Schlag: Ich erfuhr, daß ich ein Karzinom hatte und eine möglichst schnelle Operation unumgänglich war.

Wohin mit dem Hund? war nun mein erstes Problem.

Ich schickte die Brosche als Eilpäckchen an Ernst Schröder.

In einem kurzen Brief teilte ich ihm andeutungsweise die Wahrheit mit: Daß ich die Brosche nicht gekauft, sondern von ihrer Besitzerin geschenkt bekommen hätte. Gleichzeitig frage ich ihn, ob er seine Kinder bitten könne, für zwei Wochen einen fremden Hund zu versorgen. Ernst rief sofort an, dankte mir sehr und versprach, noch am gleichen Abend den Hund abzuholen. Er kam mit Annette, die sich gleich auf den Dieskau stürzte und diese Aufgabe mit Freude auf sich nahm.

Als Annette schon im Auto saß, sagte ich leise: »Deine Tochter hat eine Schwester, von der du nichts weißt. Du kannst in Ruhe darüber nachdenken, ob du meine Worte zur Kenntnis nehmen willst oder weiterhin davon keine Ahnung hast.«

Ernst drückte mir beide Hände und konnte nichts sagen.

Ich hatte eine grauenhafte Angst vor Narkose und Operation.

Früher hatte ich nie verstanden, wenn meine Bekannten sich vor einem Arztbesuch drückten und bei einer notwendigen Operation in Panik gerieten. Ich hatte sogar ausdrücklich betont: »Für die Ärzte ist das eine reine Routine-Angelegenheit; täglich machen sie solche Schneiderarbeit wie am Fließband — da kann einfach nichts schiefgehen.«