Jetzt, wo es um mich persönlich ging, sah die Fließbandarbeit anders aus. Immer wieder las man ja von Patienten, die aus der Narkose nicht mehr aufwachten, aber dank unmenschlicher Technik als lebender Leichnam noch jahrelang ein Bett beanspruchten. Wäre es eine Lösung für mich, überhaupt nicht mehr aufzuwachen?
Im Krankenhaus wies man mich in ein Zweibettzimmer ein; sämtliche vorherigen Untersuchungen wurden noch einmal wiederholt. Im Nachbarbett lag eine schweigsame Person mittleren Alters, die emsig an einem schockrosa Hütchen für Toilettenpapier häkelte und erst auf zweimaliges Fragen antwortete, sie würde morgen entlassen.
Am Abend vor der Operation kam ein griechischer Anästhesist, um meinen Blutdruck zu kontrollieren, meine Laborwerte, EKG und Thoraxaufnahme zu studieren und mich eingehend nach Familien- und eigenen Krankheiten sowie Allergien zu befragen.
»Haben Sie Angst?« fragte er.
Ich nickte.
»Viele Menschen fürchten sich vor der Narkose, weil sie sich einbilden, beim Aufwachen tot zu sein«, scherzte er (ich fand es überhaupt nicht lustig), »aber ich könnte Ihnen eine Epidural-Anästhesie anbieten, bei der Sie nur in der unteren Hälfte betäubt werden.«
»Um Gottes willen, dann sehe ich ja die rohen Gesichter der Chirurgen und höre, wie sie über Fußball reden und ihre Messer wetzen!«
»Sie würden durch sedierende Mittel in einen schläfrigen Zustand versetzt und die Augen schließen. Für die Ohren gibt es Kopfhörer. Ich habe eine Kassette mit wunderbarer Sirtaki-Musik.«
Gern hätte ich gesagt, er solle sich den Sirtaki an seine grüne Duschhaube stecken. Aber ich blieb höflich und bat ihn, mir eine anständige Feld-Wald-Wiesen-Narkose zu verpassen, damit ich nicht das geringste von der Prozedur mitkriegen könnte.
Anschließend klärte mich ein Chirurg über die Operationsmethoden und -risiken auf. Ich nickte sachverständig, hatte hinterher aber das Gefühl, in meiner großen Aufregung kein Wort verstanden zu haben.
In dieser Nacht schlief ich seltsamerweise gut, eingewiegt durch ein Schlafmittel. Die Frau neben mir wurde in der Frühe von einem verbitterten Mann abgeholt, der es nicht für nötig hielt, mir guten Morgen zu wünschen.
Noch bevor man mich in den OP-Saal schaffte, wurde das ausgewechselte Nebenbett neu belegt. Eine weißhaarige Alte preßte mit schmerzhaftem Druck meine Hand.
»Ich bin die neue Stubenkameradin!«
Meine Kameradin zog einen Schlafanzug aus lila Frottee an und begann ihre Krankenhauszeit mit Purzelbaum, Kerze und Brücke auf der schmalen Bettstatt. Ich erfuhr, daß sie in ihrer Jugend Meisterin auf dem Rhönrad gewesen war. Als sie gerade anfing, mir aus einem Körnerbuch Rezepte für makrobiotische Gerichte vorzulesen, wurde ich abgeholt.
Ich erwachte erst Stunden später, eine Infusion am Arm und eine Krankenschwester an der Seite. Ich lebte noch.
Irgendwann aber setzten Schmerzen ein, langsam dämmerte ich aus Schlaf und Traum hervor und begriff, daß mir Schreckliches angetan worden war. An der Wand vor mir hingen Dürers betende Hände und van Goghs Zugbrücke, von einer passionierten Oberschwester als Hoffnungsträger aufgehängt.
Die Kameradin wurde am nächsten Tag operiert. Als es uns beiden besser ging und sie mir schließlich aus dem Tagebuch einer bayrischen Rutengängerin vorlas, wünschte ich mir eine neue Nachbarin.
Das war einer der wenigen Wünsche, die in Erfüllung gingen, und auch nur, weil ich besonders lange in der Klinik lag.
Die Neue war dachshaarig und wie ein kleines Mädchen ganz in einer einzigen Farbe angezogen: grün die Socken, grün Rock und Pullover, grün Schuhe und Schal. Als die Grüne fertig im moosfarbenen Nachthemd hingestreckt war, kam ihr Mann herein, der im Flur gewartet hatte. Ich hörte wieder einmal vertrauten Berliner Jargon.
»Ick hab’ dir’n Foto von der Kleenen mitjebracht«, sagte er zärtlich und stellte ein Bild im Silberrahmen auf den Nachttisch. Als er weg war, linste ich hinüber. Es war das Foto einer Schäferhündin.
Auf die Dauer entpuppte sich die Hundemutter als gute Anrainerin. Gelegentlich trank sie aus einer eingeschmuggelten Schnapsflasche und bot mir stets herzlich davon an, nachdem sie das Mundstück extra mit dem Ärmel abgewischt hatte.
»Se ham mir ausjenommen wie ’ne Weihnachtsjans«, klagte sie. Wenn sie kalte Füße hatte, saß sie unten auf meinem Bett und steckte vertraulich ihre Eisklumpen unter meine Decke.
Ich hätte mir bei jedem anderen solche Aufdringlichkeit verbeten, aber bei der Berlinerin wirkte es ganz natürlich, und ich schämte mich meiner Starrheit. Sie hatte einen starken Drang nach Körperkontakt und faßte mich beim Reden gern an.
Vielleicht durfte sie sich das alles erlauben, weil sie mich einmal spontan in die Arme genommen hatte. Sie war wohl nachts von meinem leisen Weinen wachgeworden. Auf einmal wiegte sie mich wie eine Mutter hin und her und sagte überzeugend: »Allet wird jut!«
Aber es wurde nichts mehr gut. Niemand besuchte mich.
Vom Büro kam eine vorgedruckte Karte: »Mit den besten Wünschen zur baldigen Genesung«, darunter hatten meine Kollegen unterschrieben. Der Chef schickte immerhin einen teuren Blumenstrauß und eine handgeschriebene Karte, auf der er seinen Besuch ankündigte. Aber er kam nie.
Zwei Tage bevor ich entlassen wurde, besuchte mich Frau Römer, frisch aus Amerika zurück.
»Sie machen mir ja Sachen!« rief sie, »ich kam gerade vom Flugplatz, las Ihren Brief und bin auf der Stelle hergekommen.
Noch nichts ist ausgepackt. Und wo ist, um Gottes willen, der Dieskau?«
Ich berichtete von meiner plötzlichen beziehungsweise lang verdrängten Krankheit.
»Den Dieskau habe ich zu Freunden gegeben. Ich werde dort anrufen, damit man Ihnen den Hund zurückbringt.«
Frau Römer beteuerte, sie könne den Dieskau selbst abholen, aber ich gab ihr weder Ernst Schröders Namen und Adresse, noch sagte ich ein Wort über seine Identität. In diese Angelegenheit wollte ich mich nicht einmischen. Ich hörte mir lange Frau Römers Reisebericht an.
»Denken Sie mal, ich habe mir angewöhnt, Eiswasser zum Essen zu trinken! Und wie finden Sie meine neue Frisur?«
Frau Römer, deren falbes Haar schon lange von vielen weißen Strähnen unterwandert wurde, hatte sich einem amerikanischen Meisterfrisör anvertraut, der das Beige rausgezwungen und die neue schneeweiße Pracht mit einem bläulichen Schatten unterlegt hatte.
»Würde Ihnen auch stehen«, sagte Frau Römer.
Sie blieb lange, und es tat mir unendlich gut.
Als sie fort war, rief ich Ernst Schröder an. Er entschuldigte sich sofort — tief beschämt —, daß er mich nicht besucht hatte.
Zum Glück führte er keine Ausreden an.
Er sprach von Witold, der immer noch schwer verletzt und ohne Sprache in der Klinik lag. Er sprach auch von Problemen mit den Kindern, die durch den Tod ihrer Mutter sehr schwierig geworden waren. Einzig dem Hund gehe es gut.
Nun berichtete ich, daß ich bald entlassen werde und daß Frau Römer wieder im Lande sei und den Hund zurückbegehre.
Ernst Schröder seufzte tief.
»Ich werde ihn heute abend hinbringen und mit ihr reden.
Wie sieht sie eigentlich aus, ich kann mich nur an ein zartes, rehäugiges Wesen erinnern?«
»Sie ist brustamputiert und hat blaue Haare«, sagte ich.
»Ach ja?« Ernst schwieg. Dann gestand er: »Dafür habe ich fast eine Glatze und einen Bierbauch.«
Später berichtete mir Frau Römer, daß er noch an jenem Abend bei ihr geschellt habe. Beide erkannten sich nicht. Sie hatte ihren Hund begrüßt und den fremden Mann kaum angeblickt. Als er seinen Namen nannte, sah sie befremdet zu ihm auf. Dann wurde sie blaß, rot, fleckig und scheckig und wieder blaß. Schließlich bat sie ihn in ihre Wohnung, und sie sprachen sich lange aus. Aber eine neue Liebe brach nicht aus.
Schließlich wurde auch ich nach Hause entlassen, aber durch die Operation hatte sich mein Leben auf einschneidende Weise verändert. Man hatte mir einen künstlichen Darmausgang angelegt, und trotz der ständig verbesserten hygienischen Hilfstechniken kam ich mir wie eine Aussätzige vor, die die Gesellschaft von Menschen meiden sollte. Wie Frau Römer bekam auch ich eine Rente auf Zeit, aber ich hatte wenig Hoffnung, je wieder in meinem Büro arbeiten zu können. Ich lebte zurückgezogen und verließ meine Wohnung nur, um das Nötigste einzukaufen und zu den Nachbestrahlungen und ständigen Kontrolluntersuchungen in die Klinik zu fahren.