Gelegentlich griff ich zum Telefonhörer und sprach mit Frau Römer, einmal rief ich Kitty an.
Von der immer noch heftig um Witold Trauernden erfuhr ich, daß die Polizei den Fall Engstern abgeschlossen hatte. Mit vielen Fragezeichen versehen, wurde Witold als der einzig Schuldige bezeichnet. Kitty hatte erwogen, den Fall von einem Detektiv noch einmal gründlich durchleuchten zu lassen, aber sie hatte es wieder verworfen.
»Es nützt nichts mehr, wenn man ihn freispricht«, überlegte sie. »Seine Söhne? Die haben das Haus verkauft und Heidelberg verlassen, der eine studiert in Paris, der andere reist in Südamerika herum. Sollen sie sich doch selbst um alles kümmern… Ich weiß noch nicht einmal, wie ich sie erreichen kann, wenn Rainer stirbt.«
Aber Witold starb nicht. Lange hatte man ihn als lebenden Leichnam an Schläuche und Maschinen angeschlossen; aber die Hoffnung, daß noch ein Rest seiner früheren Persönlichkeit wiederzuerwecken sei und er möglicherweise mehr als ein rein vegetatives Dasein führen könnte, war gleich Null. Nach Rücksprache mit den Söhnen, die entgegen Kittys Aussage immer mal wieder auftauchten und ihren Vater besuchten, stellte man nach Monaten das Beatmungsgerät ab. Wider Erwarten setzte die natürliche Atmung ein, und Witold wurde in ein Rehabilitationszentrum entlassen, von dort schließlich in ein Pflegeheim.
Als ich das erste Mal zu ihm fuhr, überlegte ich wie in jenem verliebten Sommer, was ich anziehen sollte. Würde er sich an mein blaugeblümtes Sommerkleid erinnern? Aber mir war nicht mehr nach weiblich Verspieltem zumute. Ich kleidete mich sehr unauffällig, sehr dezent. Ich war eine alternde Frau und sah auch so aus; vielleicht sollte ich für meine grauen Haare ernstlich Frau Römers Altweiberblau in Betracht ziehen.
Ich besuche Witold zweimal in der Woche und fahre ihn im Rollstuhl spazieren. Er starrt mich an, ohne daß man sagen könnte, ob in seinem Blick Freude, Erkennen oder abgrundtiefer Haß liegt. Wieweit kann er sich erinnern? Kein Arzt vermag es zu sagen. Die Krankenschwestern behaupten, er freue sich über meine Besuche. Jeden Dienstag und Samstag sagen sie: »Rainer, heute kommt die Rosi! Heute ist Wandertag!«
Er verstehe diese Worte durchaus. Zu mir sagt seine Pflegerin immer wieder bewundernd: »Wirklich, Frau Hirte, es ist so nett von Ihnen, sich um den armen Kerl zu kümmern! Sie haben ein Herz aus Gold!«
Man zieht ihm die Windjacke über, eine starke Schwester hievt ihn in den Rollstuhl. Ich knie vor ihm und mache ihm den Reißverschluß zu. Dann schiebe ich mit ihm los. Manchmal erzähle ich ihm, daß ich ihn einmal sehr geliebt habe.